- Titel
- Unter den Menschen
- Autor
- Mathijs Deen
- Genre
- Roman
- Erschienen
- 12. Februar 2019
- Verlag
- Mare Verlag
- Seiten
- 192
- Preis
- 20,00 €
- ISBN
- 978-3866482807
Schon lange bin ich ein Fan des kleinen, aber feinen Hamburger Mare Verlags. Die dort verlegten Bücher sind nicht nur optisch eine Augenweide, sondern vor allem inhaltlich etwas Besonders. Literarische Perlen eben, von Autoren verfasst, die manchmal noch unbekannt sind. Schon oft habe ich auf gut Glück bei einem Titel zugegriffen und wurde nicht enttäuscht. „Unter den Menschen“ von Mathijs Deen ist genau so ein Glücksgriff.
„Der Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheiten“
Albert Camus
Für mich persönlich ergeben sich aus dieser Feststellung zwei mögliche Konsequenzen: Entweder man stellt sich seinen Wahrheiten, bekommt den Kopf frei, verändert und gestaltet die Dinge zum Positiven. Oder man verdrängt sie, versucht zu vergessen, kann sich nicht lösen und die Zukunft nur belastet gestalten.
Was aber geschieht, wenn sich zwei Menschen treffen, die derart unterschiedlich mit ihren Wahrheiten umgehen, und trotzdem eine wie auch immer geartete Beziehung führen wollen? In seinem kammerspielartigen Roman „Unter den Menschen“ spürt Mathijs Deen genau dieser Frage nach.
Nach dem Unfalltod seiner Eltern führt Jan den geerbten Bauernhof alleine weiter. Er bewirtschaftet ungefähr 80 ha Land in einer zersiedelten Gegend an der niederländischen Nordsee, ein Deich trennt das Meer vom Land und schützt die Höfe, ihre Menschen und Tiere. Seit der Geburt findet Jans Leben im Kreislauf der Jahreszeiten und im Einklang mit der Natur statt. Ein anderes Leben kann er sich auch überhaupt nicht vorstellen. Aber jetzt nagt die Einsamkeit an seiner Seele und macht ihn traurig. Vor allem, weil die Felder bestellt sind, die Ernte eingefahren und die Buchhaltung für das Jahr abgeschlossen ist und ein langer, ereignisloser Winter vor ihm zu liegen droht. Er beschließt, eine Partnerin zu suchen; gerne zur Gründung einer Familie.
„Bauernsohn sucht Frau. Wohnt allein. 80 ha.“
Unter den Menschen, S. 8
Kurz und knapp, ohne mehr von sich preiszugeben, wie es seinem Charakter entspricht, ist diese Kontaktanzeige formuliert. Tatsächlich erhält er darauf einige Zuschriften, aus denen er eine auswählt und beantwortet:
„Ich weiß, wie das ist. Ruf mich an. Wil.“
Unter den Menschen, S. 8
Dass auf Basis dieses sparsamen Informationsaustauschs ein Kennenlernen schwierig werden wird, lässt sich an dieser Stelle schon erahnen. Wie kompliziert es dann wirklich wird, bemerkt man erst mit Voranschreiten der Geschichte. „Wil“ ist außerdem ein Pseudonym, die Frau heißt eigentlich Irene, und auch das bleibt lange unklar. Wer erwartet, Deen spule eine Liebesgeschichte im „Bauer sucht Frau-Format“ ab, sollte das Buch gleich wieder aus der Hand legen. Denn vielmehr konfrontiert er den Leser mit einer Beziehungsanbahnung, die eine gleichermaßen betörende wie verstörende Wirkung entfaltet; die in ihrer emotionalen Intensität manchmal nur schwer auszuhalten ist. Zwei Welten prallen aufeinander: Jan möchte sein Leben nicht verändern, er möchte es nur nicht länger allein verbringen. Für ihn soll alles weitergehen wie bisher; alte Gewohnheiten, feste Abläufe, Traditionen und die Erinnerung an seine Eltern und wie es früher war, geben nicht nur seinem Alltag Struktur, sondern Hilfe und Halt bei Problemen. Das Gewohnte ist für ihn Schutz für alle Lebenslagen und im menschlichen Miteinander. Es hilft ihm dabei, immer er selbst zu bleiben. Eine wichtige Rolle spielt auch der Deich. Er ist in erster Linie eine natürliche Grenze; der Schutz des Landes vor der Unberechenbarkeit des Meeres. Jan ist ein Landmensch, der in der Gleichförmigkeit der Felder und Wiesen Geborgenheit und Sicherheit erfährt. Deshalb meidet er den Kontakt mit dem Wasser, sogar nur den Blick auf die sich permanenet bewegende See. Wil ist das genaue Gegenteil: Sie möchte gar keine Familie gründen, auch keine Liebesbeziehung führen; ihr ausschließliches Interesse gilt dem Bauernhof und dem Meer. Davon hat sie schon immer geträumt, jetzt könnte es wahr werden. Sie glaubt, die Chance für einen radikalen Neuanfang, für den Ausstieg aus ihrem alten, von Enttäuschungen und Verwundungen geprägten Leben, gefunden zu haben. Das Gewohnte möchte sie hinter sich lassen, ihr Schutz vor dem Leben sind Lügen, Verdrängung, der Versuch der totalen Kontrolle.
Ist es möglich, dass sich diese beiden Personen, die auf völlig verschiedenen Pfaden unterwegs sind, irgendwo treffen? Laufen sie aneinander vorbei oder finden sie einen gemeinsamen Haltepunkt? Welches Gepäck muss oder kann man abwerfen, um den Weg Seite an Seite fortsetzen zu können?
Um das herauszufinden gibt Mathijs Deen seinen Protagonisten 180 Seiten Zeit. Es ist nicht nur für Jan und Wil eine intensive Etappe, auch der Leser wird emotional heftig involviert. Mißverständnisse, Ablehnung, Sturheit, Egoismus sind nur einige Verhaltensweisen, die eine Annäherung zu einer nervlichen Zerreißprobe werden lassen und alle Beteiligten auf eine Achterbahn der Gefühle schicken. Wenn Dialoge eher trennen als verbinden, große Einsamkeit statt Gemeinschaft herstellen, Verlassenheit statt Geborgenheit offenbaren, dann geht das auch am Leser nicht spurlos vorbei. Innere und äußere Stimmungen weisen dabei eine geniale Kongruenz auf: Landschaftsbilder und Wetterbeschreibungen spiegeln exakt die jeweiligen Befindlichkeiten wider oder geben ein Indiz für den aktuellen „Beziehungsstatus“. Ein alles verändernder Sturm ist das eindrucksvollste Zeichen, der Schnee am Ende stellt quasi ein Gleichgewicht zwischen den Landschaftsseiten diesseits und jenseits des Deiches, sprich zwischen Jan und Wil, her und mutet wie der sprichwörtliche „Silberstreif am Horizont“ an. Es drängt sich der Gedanke auf, als würde hier die Natur Regie führen.
Der Grundton dieses Romans ist melancholisch, manchmal traurig oder auch bitter. Und obwohl aus so vielen Zeilen Einsamkeit, Hilflosigkeit, emotionale Not und Härte spricht, ist das Buch nicht gänzlich negativ. Dem gegenüber stehen nämlich die Versuche, den Faden immer wieder aufzunehmen, dem anderen entgegenzukommen und Verständnis zu zeigen. Am Ende hat man einen berührenden, manchmal schwer auszuhaltenden Roman gelesen, der Impulse setzt und zum Nachdenken anregt über die Frage: „Kann man jemand anderen jemals verstehen?“
„Sag mir, was ich falsch mache“, sagt er in Richtung Traktor.
„Nichts.Du musst einfach dein Ding machen und mich auch mein Ding machen lassen.“
Unter den Menschen, S.181
Vielleicht ist diese Haltung der Silberstreif am Horizont; die innere Einstellung, um zusammenzukommen.
Ich bin froh, dass ich dieses Buch gelesen habe!