Déjà-lu? Bücher


Titel
Pferde stehlen
Autor
Per Petterson
Genre
Erschienen
1. Februar 2008
Verlag
Fischer Taschenbuch
Seiten
246
ISBN
978-3596175185
SchönBuchHandlung

Pferde stehlen – das riecht nach Abenteuer und Risiko; das klingt nach „durch-dick-und-dünn-gehen“, intensiver Gemeinsamkeit, bedingungslosem Vertrauen und unverbrüchlicher Freundschaft. Über all das erzählt Per Petterson in seinem gleichnamigen Roman. Aber wenn man die Geschichte zu Ende gelesen und das Buch zugeklappt hat, weiß man, dass er uns reicher beschenkt hat als mit einer unterhaltsam-verwegenen Robinsonade. Nämlich mit der tröstenden Gewissheit, dass lebenslange Enttäuschung und Traurigkeit auch großes Glück beinhalten können.

„Mein ganzes Leben habe ich mich danach gesehnt, allein an einem Ort wie diesem zu sein. Auch in schönsten Zeiten, und die waren nicht selten. Soviel kann ich sagen. Daß sie nicht selten waren. Ich hatte Glück. Doch auch dann, zum Beispiel inmitten in einer Umarmung, wenn mir jemand Worte ins Ohr flüsterte, die ich gerne hörte, konnte ich mich plötzlich weit weg sehnen an einen Ort, an dem es einfach nur still war. Es konnten Jahre vergehen, ohne daß ich daran dachte, aber das heißt nicht, daß ich mich nicht danach sehnte. Und jetzt bin ich hier, und es ist fast genau so, wie ich es mir vorgestellt habe.“

So spricht die Hauptperson des Romans: Trond Sander, gebildet, belesen (am liebsten Charles Dickens) und vermögend (er ist „der Junge mit den Goldhosen“), zieht im Alter von 67 Jahren aus der Hauptstadt Oslo ins ländliche Ostnorwegen. Drei Jahre nach dem Unfalltod seiner Frau sucht er die Einsamkeit, um den letzten Abschnitt seines Lebens in Ruhe und Bescheidenheit zu verbringen. Er möchte „in sich hineinhören“, das Bewusstsein für die alltäglichen Dinge schärfen und ganz im Hier und Jetzt verweilen. Dazu gehört es, sein neues Refugium – eine ärmliche Hütte – eigenhändig instand zu setzen und einigermaßen gemütlich – wenn auch ohne (technischen) Komfort – bewohnbar zu machen. Die große Entfernung zu den nächsten Nachbarn und dem Dorf sowie die Lage unmittelbar am Fluss, umgeben von Felsen und tiefen Wäldern, scheinen der ideale äußere Rahmen für sein neues Leben in der Abgeschiedenheit zu sein; auf sich selbst konzentriert, ohne jedoch zum Einsiedler zu werden.

Als ihm eines Nachts zufällig sein Nachbar Lars Haug über den Weg läuft, erkennt er in ihm eine Gestalt aus seiner Jugend wieder. Diese Begegnung setzt ein Erinnerungskarussell in Gang, das seinen Anfang im Sommer 1948 nimmt. Damals hatte der 15jährige Trond in einer ähnlichen Hütte auf dem Land an der Grenze zu Schweden mit seinem Vater Urlaub gemacht und eine intensive Zeit verbracht. „Pferde stehlen“ mit dem gleichaltrigen besten Freund Jon, Bäume fällen und Holz flößen mit den erwachsenen Männern und das gefühlte Einssein mit dem Vater, der während des Krieges kaum zu Hause bei der Familie gewesen war, bedeuten für den Heranwachsenden das größte Glück. Bis in der Familie des Freundes ein tragisches Unglück geschieht, er bezüglich seines Vaters eine verstörende Entdeckung macht und am Ende des Sommers nichts mehr so ist wie vorher.

„Er hat mich erkannt, so wie ich ihn erkannt habe. Es ist mehr als fünfzig Jahre her, wir waren damals noch Kinder, er zehn Jahre und ich fünfzehn, und ich hatte immer noch Angst vor dem, was um mich herum geschah, was ich nicht verstand, auch wenn ich wußte, daß ich ganz dicht dran war, daß ich nur die Hand so weit wie möglich hätte ausstrecken müssen, schon hätte ich vielleicht ganz herangereicht und gespürt, wie die Dinge waren. So fühlte es sich jedenfalls an, und ich weiß noch, wie ich in dieser Sommernacht 1948 mit den Kleidern in der Hand aus dem Schlafzimmer rannte, in Panik plötzlich, weil ich begriff, daß das, was mein Vater sagte, und wie die Dinge wahrhaftig zusammenhingen, nicht zwangsläufig das gleiche war, und das machte die Welt vage und schwer festzuhalten. Es öffnete sich eine Dunkelheit, und ich vermochte nicht durch sie hindurch zu sehen, und draußen in der Nacht, einen Kilometer den Fluss hinunter, lag Lars vielleicht wach und allein in seinem Bett und versuchte, seine Welt festzuhalten…“

In diesem Sommer erfährt Trond nicht nur die intensive Gemeinsamkeit mit seinem Vater, sondern auch dessen lang gehütetes Geheimnis (auch er war „Pferde stehlen“), und er verliert ihn auf eine Weise, die ihm die lebenslange, schmerzhafte Erkenntnis bringt, dass der Wunsch, zwei Menschen mögen gemeinsam eine einzige Geschichte erleben, fortwährend enttäuscht wird, weil jeder in seiner persönlichen, schicksalhaften Geschichte verstrickt ist.

Die Erinnerungen an die Kindheit bzw. Jugend breiten sich aus wie Kreise eines ins Wasser geworfenen Steins: Langsam und immer weiter werdend, entfalten sie die ganze Wucht jenes Dramas und die späteren Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeiten der Familien. Und es wird deutlich, daß die Ereignisse in den Augen des jungen Trond eine andere Bewertung erfahren als aus der Sicht des alten Trond. Was der Fünfzehnjährige noch nicht wissen konnte, ist ihm im Alter von 67 Jahren klarer und erklärbarer.

Der Leser folgt der Erzählung, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her pendelt, mit gespannter Aufmerksamkeit. Fast schon provozierend bedächtig ausgebreitet, strahlt ihre klare, eindringliche Sprache eine ungeheure poetische Kraft und gleichzeitig eine große Ruhe aus. So viel passiert in diesem Buch, trotzdem ist es unglaublich still darin. Die eindrücklich gemalten Bilder der wilden Landschaft, die genau austarierten zwischenmenschlichen Stimmungen und Schwingungen und auch das nicht Gesagte oder das zwischen den Zeilen sich Verbergende wecken den Wunsch, das individuelle Lesetempo diesem Text so anzupassen, daß das Ende noch lange nicht in Sicht kommt.

Ein großartiges Buch für Leser ohne Eile!

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