- Titel
- Niemals ohne sie
- Autor
- Jocelyne Saucier
- Genre
- Roman
- Erschienen
- 11. März 2019
- Verlag
- Insel Verlag
- Seiten
- 255
- Preis
- 20,00 €
- ISBN
- 978-3458178002
„Die Familie ist eine Begegnung mit dem, was man am tiefsten in sich vergraben hat“
aus: Jocelyn Saucier: „Niemals ohne sie“, S. 104
Ein Satz wie ein Kalenderspruch. Gleichzeitig verbirgt sich alles, was die Familie in Jocelyn Sauciers Roman „Niemals ohne sie“ ausmacht, hinter dieser einen Zeile: Freude, Trauer, Geheimnis, Verdrängung, Einsamkeit, großes Drama. Die Familie Cardinal ist alles – außer gewöhnlich. Häufig brauchen Romane eine gewisse Anlaufzeit, um in Fahrt zu kommen, verlangen vom Leser ein gerüttelt Maß an Geduld, um sich in die erzählte Geschichte hineinzufinden, und oft genug stellt sich die Frage, ob sich ein Weiterlesen überhaupt lohnt. Das ist hier anders. Schon die erste Seite gibt einen Vorgeschmack auf das, was den Leser erwartet: Nämlich eine sich lebhaft ausbreitende Geschichte einer außergewöhnlichen Familie, von der man alles erfahren möchte.
„Ich liebe den Moment, wenn sich unsere Familie in das Gespräch einschleicht (…) Unsere Familie ist das Glück meines Lebens und ein Thema, mit dem ich immer punkten kann. Wir sind wie niemand sonst, wir haben uns selbst erschaffen, wir sind einander unentbehrlich, unvergleichlich und unangepasst, die Einzigen unserer Art. All die Wichte, die wie Schmetterlinge um uns herumgeflattert sind, haben sich an uns die Flügel verbrannt. Wir sind nicht bösartig, aber wir zeigen unsere Zähne. Wenn die Cardinals ihren Auftritt hatten, nahmen alle Reißaus.“ („Niemals ohne sie“, S.7)
In diesem Ton geht es erst einmal weiter. Es ist die ein wenig nostalgisch verklärende Sicht des jüngsten Kindes auf die Familie. Seine Erinnerungen an die Kindheit mit 20 älteren Geschwistern sind diffus, jedoch überwiegend positiv, weil es zum Zeitpunkt der Katastrophe noch zu klein war, um die Zusammenhänge zu bgreifen. Außerdem wurde es als schwächstes Mitglied von allem ferngehalten, was nach Anstrengung, Auseinandersetzung oder Ärger aussah und konsequent vor Streit mit Außenstehenden beschützt. Der Junge schildert das turbulente Leben seiner Großfamilie in wirtschaftlich prekären Zeiten, die unkonventionelle Art, Schwierigkeiten zu begegnen, ihre Lebensweise außerhalb der bürgerlichen Norm und die innerfamiliären Kämpfe um Macht, Liebe und Anerkennung so lebendig und humorvoll, dass man diese Familie trotz allem einfach nur cool finden kann. Aber ganz so fabelhaft ist es dann doch nicht. Denn es kommen noch weitere Geschwister zu Wort, und sie erzählen die Geschichte aus ganz anderen Perspektiven und haben differenzierte Wahrnehmungen. Je mehr Aspekte des Zusammenlebens thematisiert werden, desto stärker verdichten sich die Hinweise auf eine Tragödie, die das Leben aller verändern wird und die Zeit in ein „davor“ und ein „danach “ teilt. Dreißig Jahre nach dem Unglück, das wie ein Puzzle aus vielen Teilen nach und nach zusammengesetzt wird und erst sehr spät ein Gesamtbild ergibt, trifft sich die Familie (fast) vollzählig, um einer Ehrung des Vaters für sein Lebenswerk beizuwohnen:
„Ihr werdet es mir nicht glauben…Ich bekomme die Medaille dafür, dass ich mein Leben lang knapp neben dem Glück nach Erz gesucht habe.“ („Niemals ohne sie“, S. 230)
Und das ist tatsächlich eine traurige Wahrheit. Der Vater hat als Erzschürfer im Norden Quebecs niemals die Hoffnung aufgegeben, auf eine „Goldader“ und damit den großen Schatz zu stoßen, der ihn reich machen würde und aller finanzieller Sorgen ledig. Sein unverbesserlicher Optimismus und seine Gutgläubigkeit gegenüber den Versprechungen von Investoren und Minenbesitzern hat dazu geführt, dass er nichts gewonnen, sondern alles verloren hat. Der Plan, das entgangene Vermögen wiederzubeschaffen, gipfelte schließlich in der Katastrophe, der Explosion in der Zinkmine. Darüberhinaus wird schnell klar, dass mit diesem Ereignis ein Geheimnis verbunden ist, das nicht alle kennen, von dem unterschiedliche Lesarten existieren und über das vor allem zukünftig geschwiegen werden muss. Nach dem Unglück ist nichts mehr wie es einmal war und die Familie zerstreut sich in alle Winde. Bis zu dem Tag der Ehrung. Und da kommt die alte Geschichte wieder hoch und setzt die Emotionen frei.
Jocelyne de Saucier gelingt es wieder einmal, einen hochdramatischen und an psychologischer Spannung kaum zu überbietenden Roman zu schreiben. Mit viel Empathie zeichnet sie ihre Figuren und arbeitet die unterschiedlichen Charaktere heraus. Sie erklärt nicht nur deren Platz in der Familie, sondern zeigt ihre innere Zerrissenheit, das Ringen um die Wahrheit einerseits und das verzweifelte Bemühen um ein halbwegs anständiges Leben mit (vermeintlicher) Schuld andererseits. Sie beschreibt die Geschwister in ihren Versuchen, sich gegenseitig zu beschützen, während sie gleichzeitig erfahren müssen, wie fragil ihr Beziehungsgeflecht ist.
„Hätten wir vielleicht unser kleines Glück finden können, wenn wir unser Unglück offen gelegt hätten? In dieser Familie ging es nie darum, glücklich zu sein. Also kann man sich auch nicht beschweren, dass wir es nicht geschafft haben.“
(„Niemals ohne sie“, S. 222)
Es gibt viele Stellen in diesem Roman, die dem Leser Tränen der Wut, der Trauer, aber auch der Rührung in die Augen treibt. Wenn die Mutter beispielsweise Nacht für Nacht jedes Kind im Schlaf besucht, schweigend betrachtet und auf diese Weise eine unglaubliche Nähe herzustellen vermag, die im trubeligen Alltag beim Abspulen des täglichen Haushaltsprogramms nicht möglich ist, dann berührt die Szene auch den Leser. Solche stillen Momente bilden einen wunderbaren Kontrast zu dem ansonsten furchtbar lauten Alltag und zeigen eindrucksvoll, dass auch in einer Großfamilie Innigkeit vorhanden ist.
Am Ende ist das Geheimnis gelüftet, es gibt eine faustdicke Überraschung und der Leser sagt sich – wie so oft: „Hätten wir doch nur darüber geredet.“
Ein tolles Buch, ganz großes Kino!
Inzwischen ist auch die Taschenbuchausgabe verfügbar.