- Titel
- Middle England
- Autor
- Jonathan Coe
- Genre
- Roman
- Erschienen
- 11. Februar 2020
- Verlag
- FolioVerlag
- Seiten
- 475
- Preis
- 25,00 €
- ISBN
- 978-3852568010
Ich beschäftige mich täglich mit komplexen mathematischen Problemen, aber mit dem Brexit will ich nichts am Hut haben.“
Stephen Hawking, gefunden auf: http://www.myzitate.de/brexit/
Brexit – da war doch mal was. Das Ereignis, das uns vor nicht allzu langer Zeit in Atem gehalten hat, von den Medien rauf und runter dekliniert, zwischen ernsthaftem Politkum und lächerlicher Räuberpistole einsortiert, büßte von jetzt auf gleich seinen gefühlten ersten Platz auf der Nachrichten-Bestsellerliste ein. „Corona“ entwickelte sich zum neuen medialen Schwergewicht und beherrscht seitdem die globalen Schlagzeilen. Andere wichtige Themen drohen dabei aus dem Fokus der Öffentlichkeit zu verschwinden, dabei schwelen sie im Hintergrund weiter. So wie der Brexit.
Zufall oder Absicht? Beinahe zeitgleich mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU hat Jonathan Coe, einer der wichtigen zeitgenössischen Schriftsteller der Insel, einen Roman vorgelegt, der seinen Landsleuten den Spiegel vorhält und dem Rest der Welt Einblick in den Zustand der britischen Seele verschafft – eine ebenso komische wie tragische Bestandsaufnahme.
Seit 30 Jahren schreibt Benjamin Trotter den Roman seines Lebens. 7000 Seiten umfasst dieses opus magnus inzwischen, in welchem er einem Abriss der dramatischen Historie Englands seine ganz persönliche Familien- und Liebesgeschichte hinzufügt, begleitet von einem ebenso ausgedehnten wie eigenwilligen Kapitel über Musik. Nun hält er er den Zeitpunkt für gekommen, sich dieser Last zu entledigen und den Roman endlich zu beenden. Mit Immobiliengeschäften in London hat er sich ein dickes pekuniäres Polster erwirtschaftet. Davon kauft er sich eine alte, romantische Wasserühle, idyllisch gelegen in der Grafschaft Shropshire, und zieht ins ländliche Herz von Mittelengland, das Jonathan Coe zum Hauptschauplatz seines Brexit-Romans macht.
Die Handlung setzt im April 2010 ein, als sich die Familie Trotter zur Beerdigung der Mutter trifft. Der Verlust wiegt schwer, und nicht nur für den hinterbliebenen Witwer, sondern auch für den Rest der Familie ändert sich das Leben gravierend. Private, wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Verwerfungen stellen alte Gewissheiten und unumstößlich geglaubte Wahrheiten auf den Prüfstand. Entlang der tagespolitischen Ereignisse, alle historisch belegt und dem Leser hinreichend bekannt, entfaltet der Autor eine Familien- und Freundesgeschichte vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung über den Brexit und seine Ursachen. Um Benjamin Trotter herum gruppieren sich Menschen aus verschiedenen Generationen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten. Sie alle stehen in mehr oder minder stark ausgeprägten Beziehungen miteinander; sie alle haben den Niedergang der britischen Industrie und den schleichenden Verfall des Wohlfahrtsstaates nach der Ära Thatcher unterschiedlich folgenschwer miterlebt. Besonders in der Mittelschicht, gemeinhin als das Herzstück der Gesellschaft verstanden, ist ein allgemeines Unbehagen darüber, wie sich die Dinge im „Merry Old England“ entwickeln, weit verbreitet. Mit Fortschreiten der Geschichte manifestieren sich diffuse Ängste in teilweise radikalen Haltungen; unterschiedliche Bewertungen der Ereignisse führen zu Rissen in der Öffentlichkeit und im privatem Leben. Vermeintlich tolerante Haltungen werden aufgegeben, wenn Ereignisse oder Umstände plötzlich die eigene Existenz bedrohen.
Jonathan Coe bespielt die gesamte Klaviatur der großen Themen, die die britische Gesellschaft umtreiben, verpackt in viele kleine Geschichten: Migration, Verfall der Industrie, Dominanz der Finanzdienstleistung, Arbeitslosigkeit, Opportunismus der Politiker, Standesdünkel, Rassismus, „political correctness“ (nicht nur) der Medien…Trotzdem ist „Middle England“ kein politischer Roman, denn die Politik bildet nur den Rahmen für die privaten Ereignisse. Der Autor hebt auch nicht den moralischen Zeigefinger oder schlägt sich auf eine Seite. Er sucht keine Erklärungen, sondern beschreibt Stimmungen. Geschickt überantwortet er dem Leser die Deutungshoheit, indem er seine Protagonisten als lebendige Figuren in einem Stück auf der Suche nach Wahrheit agieren lässt und so den Finger in die Wunden legt. Psychologisch werden sie nicht bis ins kleinste Detail ausgeleuchtet, erscheinen aber trotzdem sowohl in ihrem Starrsinn als auch in ihrer Wandlungsfähigkeit glaubwürdig.
Ganz nebenbei erhält Benjamin Trotter nicht nur eine so radikale wie einfache Lösung für sein Romanprojekt, sondern gibt zum Schluss auch noch eine ziemlich charmante Antwort auf die Frage nach dem Brexit.
„Middle England“ ist einerseits eine Fortsetzung von „Erste Riten“ (2002) und „Klassentreffen“ (2006) – und ist es andererseits auch wieder nicht. Denn obwohl das Stammpersonal bereits die 70ger und die ersten Jahre des neuen Jahrtausends er- bzw. durchlebt, kann man seine Geschichte rund um den Brexit als eigenes Werk ohne Vorkenntnis der beiden anderen Romane lesen und verstehen. Und das mit dem größten Vergnügen!