Déjà-lu? Bücher


Titel
Klara Vergessen
Autor
Isabelle Autissier
Genre
Erschienen
4. Februar 2020
Verlag
Mare
Seiten
304
Preis
24,00 €
ISBN
978-3866486270
SchönBuchHandlung

„Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“

Soren Kierkegaard

Nach ihrem gefeierten Debüt „Herz auf Eis“ legt die französische Autorin Isabelle Autissier nun ihren zweiten Roman vor. Dieser ist ganz anders komponiert als der Erstling und trägt dennoch unverkennbar Autissiers Handschrift. Statt einer Paargeschichte schreibt sie den Roman einer ganzen Familie. Da das gewählte Thema drei Generationen betrifft, ergeben sich daraus für die Zeit, die Figuren und ihre Handlungen beziehungsreichere Verhältnisse und damit eine größere Komplexität. Das Gemeinsame besteht in der Außergewöhnlichkeit des Schauplatzes und der damit verbundenen grandiosen Naturbeschreibungen. Ereignete sich das Drama in „Herz auf Eis“ auf einer einsamen Insel in der Nähe zur Antarktis, verlegt Autissier das Geschehen in „Klara vergessen“ ans andere Ende der Welt: Nach Murmansk, bzw. ins Nordpolarmeer und auf dessen unwirtliche Inseln.

Seit fast 25 Jahren lebt Juri als Professor der Ornithologie in den USA. Obwohl er in Murmansk geboren und aufgewachsen ist, interessieren ihn die politischen Vorgänge und wirtschaftlichen Entwicklungen im heutigen Russland nicht mehr. Zustände und Ereignisse nimmt er aus der Entfernung wahr, seine familiären Bindungen hat er vor langer Zeit rigoros gekappt. Im Westen kann er das freiheitliche und selbstbestimmte Leben führen, das ihm im Osten versagt geblieben war. Eines Tages erreicht ihn die Nachricht, dass sein Vater im Sterben liege und seinen Sohn noch ein letztes Mal sehen möchte. Nicht die Sehnsucht nach seinem Vater, sondern der Wunsch, mit dessen Tod endgültig einen Punkt hinter die Familiengeschichte setzen zu können, treibt Juri in seine alte Heimat. Am Sterbebett wird schnell klar, dass sich im Grunde nichts am schwierigen Verhältnis geändert hat, sondern der Vater, Rubin, eine lebenslang offene Wunde endlich schließen möchte, wozu er Juris Hilfe benötigt: Er soll herausfinden, was mit Klara, seiner Mutter und Juris Großmutter, passiert ist. Im Jahr 1951 wurde die Wissenschaftlerin von Stalins Geheimdienst in der Wohnung abgeholt, verhaftet und seitdem nie wieder gesehen. Rubin war damals ein kleiner Junge und in dem anhaltenden Klima der Angst wurde über diese Angelegenheit der Mantel des Schweigens ausgebreitet. Das hat ihn geprägt, sein ganzes weiteres Leben beeinflusst und bis zum Ende nicht losgelassen. Ohne allzu großen Enthusiasmus begibt Juri sich auf Spurensuche. Es gelingt ihm, in den inzwischen freigegebenen Archiven Akteneinsicht zu erlangen und auf Umwegen tatsächlich die Wahrheit über das Leben seiner Großmutter herauszufinden. Das Verfolgen ihrer Spur fördert eine unglaubliche Geschichte zutage, an deren Ende er erkennen muss, wie eng verwoben die Schicksale der drei Generationen miteinander sind und es wahrhaftig (s)eine Familiengeschichte gibt.

Mit großer Sachkenntnis der russischen Geschichte schildert die Autorin das jeweilige Leben der drei Protagonisten in groben Zügen. Beginnend mit dem Enkel Juri rollt sie das Feld sozusagen von hinten auf, wobei dessen aktuelle Situation als Klammer für die gesamte Geschichte dient. Aufgewachsen in den letzten Zügen der UdSSR vor der Perestroika, begleiten wir den kleinen Jungen durch eine relativ schöne frühe Kindheit, eine freudlose Jugend, geprägt von schmerzlichen Erfahrungen verbunden mit einer Begeisterung für Vögel und deren Lebensräume, und eine dramatische Phase als junger Mann, die seinem Leben eine entscheidende Wendung gibt. Danach entrollt Autissier Rubins schwierige Entwicklung vom kleinen Jungen bis zum erfolgreichen Fischereikapitän, der sich schon früh alles allein erkämpfen musste. Den die Umstände – verschwundene Mutter, schwacher Vater, materielle und emotionale Entbehrungen – für das Leben gestählt und hartherzig bis zum Schluss haben werden lassen. Schließlich Klara, über deren Schicksal anfangs nur wenig preigegeben wird. Man fragt sich, ob sie – wie im Titel beschrieben – vergessen wurde, nur um in der zweiten Hälfte des Buches umso heftiger mit ihr konfrontiert zu werden. Der Weg von der Verhaftung in die Verbannung und das sich anschließende Leben in einsamer, unwirtlicher Gegend ist unfassbar und anrührend zugleich. Autissier gelingt der Spagat zwischen der Darstellung der Brutalität des Systems und den kleinen, unerwarteten zwischenmenschlichen Berührungen sprachlich hervorragend. Im Zusammenspiel mit der grandiosen poetischen Beschreibung der Landschaft und des besonderen Lichts in der Polarregion, ist so ein eindrucksvoller Roman entstanden. Am Ende findet Juri das die Generationen verbindende Element heraus. Er kann endlich die scheinbar losen Fäden seiner Familiengeschichte zu einem Strang verweben und aus der Vergangenheit Kraft für die Zukunft schöpfen.

Ein Roman über Verrat, Vergessen und Verdrängung; der uns daran erinnert, dass Verschweigen und Schweigen nicht befreien, sondern belasten. Er weckt in uns extreme Gefühle von Freude bis Trauer und Wut und alle Emotionen, die dazwischen liegen.

Unbedingt lesen!

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