Déjà-lu? Bücher


Titel
Juni 53
Autor
Frank Goldammer
Genre
Erschienen
23. Dezember 2019
Verlag
dtv
Seiten
368
Preis
15,90 €
ISBN
978-3423262323
SchönBuchHandlung

Mit jedem neuen Fall seiner historischen Krimireihe um Kommissar Max Heller ist dem Autor Frank Goldammer ein Platz auf den Bestsellerlisten sicher. Seine Fangemeinde beschränkt sich nicht nur auf Dresden, dem Schauplatz der Verbrechen, sondern erstreckt sich mittlerweile auf die ganze Bundesrepublik. Die Faszination seiner Geschichten geht von ihrer besonderen Konstellation aus. Verbrechen ereignen sich nicht in Friedens- sondern in Kriegszeiten, ihre Aufklärung findet unter erschwerten Bedingungen statt: Ermittelnde Beamte der regulären Polizei sehen sich in Konkurrenz zu parallel agierenden und intrigierenden Mitgliedern der Gestapo, später der Stasi. Da werden Vergehen und Verdächtige dazu benutzt, eigene, politisch motivierte Ziele zu verfolgen und unliebsame Zeitgenossen auszuschalten. Der erste Band der Serie, „Angstmann“, spielt 1944 während der Bombardierung Dresdens durch die Alliierten und schon hier zeigt sich eindrucksvoll das moralische Dilemma eines Max Heller, der sich in seinem Handeln ausschließlich seinem Gewissen verpflichtet fühlt und nicht der Parteidoktrin. Es wird deutlich, dass jede berufliche Entscheidung auch Konsequenzen für den privaten Bereich hat.

Die nachfolgenden Fälle „Tausend Teufel“, „Vergessene Seelen“ und „Roter Rabe“ ereignen sich zwischen den Jahren 1947 und 1951. Der Schauplatz ist immer noch Dresden, die geopolitische Lage hat sich verändert: Mit der Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen ist der Osten unter sowjetischen Einfluss geraten, und mit Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 und der DDR im Oktober desselben Jahres zwei deutsche Staaten entstanden. Max Heller hatte sich entschlossen, in der Heimat zu bleiben, und mit ihm erlebt der Leser den Neuanfang eines Lebens in einer veränderten Welt, die Hoffnung auf den Aufbruch in eine bessere Zukunft. Die Ernüchterung folgt auf dem Fuße, als klar wird, dass sich anstelle der alten Parteidiktatur eine neue zu etablieren beginnt – nur mit umgekehrten Vorzeichen. Ein Unrechtsstaat durch einen neuen ersetzt wird; und wieder versucht Max Heller, seinen Prinzipien treu und nur seinem Gewissen verpflichtet zu bleiben.

Der beschleunigte Aufbau des Sozialismus, das Formulieren verschärfter Produktionsziele bei gleichzeitigen Lohneinbußen, der beschwerliche Alltag in einer Mangelwirtschaft, dazu die Ignoranz der SED-Führung gegenüber den Bedürfnissen der Arbeiterklasse, führt zu einer wachsenden Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung. Im „Juni 53“ eskaliert die Situation: Eine Welle von Streiks, Demonstrationen und Protesten überzieht das Land, auch in Dresden kommt es zu Ausschreitungen. In der aufgeheizten Atmosphäre machen Arbeiter des „VEB Rohrisolationen“ einen grausamen Fund: Der Betriebsleiter wird tot in einem Silo mit Glaswolle gefunden. Außerdem wird der Funktionär der Betriebsparteiorganisation vermisst. Ein Einbruch in die Fabrik und heftige Verwüstungen der Einrichtung in der Nacht zuvor legen einen Zusammenhang der Vorfälle mit den überall stattfindenden Protesten nahe. Eine konzertierte Aktion, gesteuert von faschistischen Kräften aus dem (westlichen) Ausland wird vermutet und von der Partei gebetsmühlenartig wiederholt. Als zuständiger Kommissar wird Max Heller mit den Ermittlungen betraut, jedoch wird ihm ein Offizier der Stasi zur Seite gestellt, ein politisch zuverlässiger Genosse, der die Ermittlungen in die gewünschte Richtung lenken soll. Schnell wird klar, dass die beiden auf unterschiedlichen Seiten stehen, auch wenn sie denselben Fall bearbeiten. Für Heller beginnt eine mühsame, nervenaufreibende Arbeit, die oft genug von Bech konterkariert wird. An eine einfache, schnelle Lösung glaubt er ebenso wenig wie an den Verdacht, die Täter seien pöbelnde, faschistische Elemente. Eine Liste mit ehemaligen sowjetischen Zwangsarbeitern sowie eine verheimlichte Studie zu Gesundheitsgefährdungen im Isolierungsbetrieb als auch diverse persönliche Verstrickungen in Ereignisse der NS-Zeit deuten auf eine komplexere Motivlage im eher privaten Umfeld der Opfer hin. Auch wenn er sich auf die Loyalität seiner unmittelbaren Kollegen und seines Chefs verlassen kann, bereitet ihm die Tatsache, dass er kein Parteimitglied ist, zunehmend Schwierigkeiten bei der Ausübung seiner täglichen Polizeiroutine und bringt ihn einige Male an seine physischen und psychischen Grenzen. Beim Lesen drängt sich irgendwann die Frage auf, ob es ihm unter den gegebenen Umständen überhaupt gelingen kann, gegen die Parteiwillkür einen Weg zu finden, sich gegen Bech durchzusetzen, die Verflechtungen zu entwirren, die Motive freizulegen und den oder die Täter zu überführen.

Dass die Nichtzugehörigkeit zur Partei seine Karriere zum Erliegen gebracht hat (viel jüngere Kollegen sind inzwischen ranghöher eingestuft), nimmt Heller in Kauf, wenn er dafür seine Unabhängigkeit bewahren kann. Aber dass ihm diese Tatsache auch im privaten Bereich zum Nachteil gereicht, ist manchmal wirklich bitter. Seine familiäre Situation spitzt sich mit der Zeit dramatisch zu und fordert am Ende die Entscheidung: Bleiben oder gehen? Auf diese Weise wird die Krimihandlung in einen zeitgeschichtlichen Rahmen eingebettet, der uns in die Epoche vor 67 Jahren zurück katapultiert und uns in die damals beklemmende Atmosphäre eintauchen lässt.

Anspielungen oder Hinweise auf Ereignisse der Vergangenheit sind für das Verständnis dieses Krimis nicht relevant, auch wenn deutlich wird, dass Max Heller eine bewegende berufliche wie private Geschichte zu erzählen hat, deren Auswirkungen im fünften Teil Fakt sind. Mir hat dieser aktuelle Teil sehr gut gefallen. Obwohl die Figuren zum Teil ein wenig zu schwarz-weiß gezeichnet sind, ist in meinem Kopfkino ein insgesamt buntes Bild entstanden. Spannung, Zeitgeschichte, verschiedene Charaktere – passt. Außerdem konnte Frank Goldammer damit meine Leselust auf die vorangegangenen Bänden wecken, weil ich nun gerne wissen möchte, was bisher geschehen ist.

„Bleibe im Lande und wehre dich täglich“

Obwohl diese Parole in der DDR erst 1989 aufgetaucht ist, hätte sie auch Max Hellers Lebensmotto sein können. Und in Zukunft? Ich bin gespannt auf Teil 6 der Reihe!

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