- Titel
- Ein Leben mehr
- Autor
- Jocelyne Saucier
- Genre
- Roman
- Erschienen
- 6. März 2017
- Verlag
- Insel Verlag
- Seiten
- 192
- Preis
- 10,00 €
- ISBN
- 978-3458361893
„Sie fanden den Tod weder traurig noch schlimm, er war einfach nur eine Möglichkeit, die sie beiläufig erwähnten. Sie freuten sich, dass sie so alt geworden waren, dass die Welt sie vergessen hatte und dass sie in Freiheit lebten. Sie waren fest davon überzeugt, alle Spuren verwischt zu haben.“ (S. 47)
Warum steigen drei Männer, hoch in den Achtzigern, aus der Gesellschaft aus, um in der Wildnis der kanadischen Wälder, fernab jeglicher Zivilisation, ein Leben in Einsamkeit und Einfachheit zu führen? Die nächste Kleinstadt ist fast 200 Kilometer entfernt und die einzige Verbindung zur Außenwelt sind zwei „junge Kerle“ mittleren Alters, die ebenso einsam, aber in gebührendem Abstand hausen.
Die drei Alten haben ein, zwei oder auch mehr bürgerliche Leben hinter sich gebracht, und dies nun soll die letzte, endlich freie Etappe bis zum Tod sein. Die Vergangenheit hat ihnen zum Teil übel mitgespielt und sie ein tiefes Misstrauen gegenüber Regierung, staatlichen Einrichtungen und der Gesellschaft allgemein gelehrt. Mit ihrem Rückzug in die Einsamkeit wollten sie sich dem Zugriff von Finanz- und Sozialamt entziehen, um in würdevoller Souveränität ein autarkes Leben zu führen und – noch wichtiger – einen selbstbestimmten Tod zu sterben. Ein jeder bewohnt seine eigene bescheidene Hütte, weit genug von den anderen entfernt, um ausreichend einsam zu sein; aber nahe genug, um sich gegenseitig zu besuchen und zu helfen, falls nötig. Sie leben im Einklang mit der Natur, folgen dem Rhythmus der Jahreszeiten und lassen sich treiben im langsamen Fluss der Zeit. In ihren Alltag haben sie kleine Rituale eingebaut, die ihnen Sicherheit geben und die Gewissheit, dass man sich aufeinander verlassen kann. Sie brauchen nicht viel; sie leben von dem, was sie jagen, fischen oder sammeln. Eine gemeinsam mit den „jungen Kerlen“ betriebene Hanfplantage wirft genug Gewinn ab, um darüber hinaus gehende Bedürfnisse zu befriedigen. Alles geschieht im Verborgenen, ohne Eile, ohne Stress, still und leise. Dieses späte Glück der Freiheit genießen sie, bis einer von ihnen, Ted Boychuck, stirbt.
Damit beginnt eine Zeit der Unruhe und Veränderungen: Zuerst platzt eine junge Frau in die Idylle: Sie ist auf der Suche nach ebendiesem Ted. Als Fotografin möchte sie Überlebende der großen Waldbrände, die um 1916 herum die Gegend verwüsteten, porträtieren, und Ted ist nicht nur einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen, sondern genießt den Ruf einer echten Legende. Wenig später taucht eine Frau von über 80 Jahren auf: „Das hier ist mein erstes Leben und ich hänge sehr daran“ (S. 108)
Damit wird das Arrangement der skurrilen Männer gehörig auf den Kopf gestellt und eine Entwicklung in Gang gesetzt, mit der niemand gerechnet hätte.
Mit leisen Tönen erzählt Jocelyne Saucier, wie aus ein paar individuellen Einsiedlern langsam eine fürsorgliche Gemeinschaft entsteht. Auch eine verborgene Geschichte kommt ans Tageslicht; auf diese Weise erfährt der Leser das dramatische Leben des Mannes, der schon gestorben ist. Sie bringt uns jeden einzelnen Menschen mit seiner persönlichen Vergangenheit, seinen Verletzungen, Gefühlen und Wünschen nahe. In ihren Beschreibungen der wilden Natur, der rauen Kerle, der Widrigkeiten des Lebens und der vorsichtigen Annäherung der Figuren untereinander, liegt manchmal eine Zartheit, die eine Gänsehaut und große Empathie für ihre Protagonisten sowie eine genaue Vorstellung der sie umgebenden Atmosphäre erzeugt. Es ist schön, dass die zentralen Themen wie Freiheit, Liebe und Hoffnung nicht verkitscht oder gefühlig daherkommen, sondern sensibel und ehrlich. Die Offenlegung zutiefst menschlicher Gefühle ist dank einer kraftvollen, niemals überspannten Sprache hervorragend gelungen. Beeindruckt hat mich auch, wie die Autorin den Tod in ihre Erzählung eingewoben hat: Am Anfang war er ein ständiger Begleiter, der mehr oder weniger präsent am Leben teilgenommen hat – mitunter sogar als Gesprächspartner. Im Verlauf der Geschichte hat er sich dann immer weiter zurückgezogen, ohne ganz zu verschwinden. Bezogen auf die Menschen im Spätherbst ihres Lebens habe ich das als ein starkes, tröstendes Zeichen empfunden.
Spannung entsteht auch durch den Aufbau des Romans: In 10 Kapiteln erzählen die Protagonisten die Ereignisse reihum aus ihrer jeweiligen Perspektive. Diesen vorangestellt sind erklärende Abschnitte, in denen ein wiederum allwissender Erzähler die einzelnen Stränge miteinander verknüpft.
„Lesen stärkt die Seele“, sagt Voltaire.
Diese Erkenntnis trifft für „Ein Leben mehr“ wirklich zu. Es ist tief berührend, zum Heulen schön – und stärkt die Seele!