Déjà-lu? Bücher


Titel
Effingers
Autor
Gabriele Tergit
Genre
Erschienen
19. Februar 2019
Verlag
Schöffling
Seiten
904
Preis
28,00 €
ISBN
978-3895614934
SchönBuchHandlung

Ich bin wirklich froh, dass manche Bücher erst lange nach ihrem Erscheinen besprochen werden oder den sprichwörtlichen „zweiten Frühling“ erfahren. Den Roman „Effingers“ von Gabriele Tergit habe ich im Februar 2019 aus den Augenwinkeln zur Kenntnis genommen, ihn dann aber (leider, leider) aus den Augen verloren. Umso dankbarer bin ich, dass ich kürzlich zufällig wieder in Form einer umfangreichen Besprechung im Magazin „Buchmarkt“ darüber gestolpert bin. Damit er mir nicht ein zweites Mal vom Haken geht, habe ich ihn gekauft und auf den Stapel ungelesener Bücher gelegt – zuoberst. Dort hatte er keine lange Verweildauer, denn ich hatte riesige Lust, das 900seitige Werk in Angriff zu nehmen und eine Woche später hatte ich die letzte Seite umgeblättert. Was für ein Roman!

Neben dem Werk selbst sind häufig auch die Umstände seines Entstehens, der Verbreitung und Rezeption interessant, was in diesem Fall in besonderem Maße zutrifft. Die jüdische Autorin Gabriele Tergit wurde 1894 als Elise Hirschmann in Berlin geboren. Sie entstammt einer gebildeten, gutbürgerlichen Unternehmerfamilie, die in der Weimarer Republik von den Nazis enteignet wurde. In den Jahren 1925 – 1933 arbeitete sie als Gerichtsreporterin für das „Berliner Tageblatt“; den journalistischen Stil behielt sie beim Verfassen ihrer Romane bei und schrieb damit im Geist der „Neuen Sachlichkeit“, der literarischen Strömung der damaligen Zeit. Als sie 1933 die Flucht vor den Nazis antrat, hatte sie bereits mit der Arbeit an „Effingers“ begonnen, die sie aufgrund der Fluchtumstände erst 1950 beenden konnte. Die Suche nach einem Verlag gestaltete sich äußerst schwierig und als der Roman in veränderter Version erschienen war, hatte er keinen Erfolg. Lange vergriffen, wurde er 2019 im Original wiederaufgelegt und vom Schöffling-Verlag herausgegeben. Zum Glück!

„Effingers“ ist ein vier Generationen umspannender Roman; die erzählte Chronik zweier unterschiedlicher Familien in der Zeit zwischen der Reichsgründung 1871 und dem Jahr 1948. Mathias Effinger, von Beruf Uhrmacher, lebt mit seiner Frau und den sechs Kindern in Kragsheim, einem Dorf in der fränkischen Provinz. Als strenggläubiger Jude folgt er den vom Glauben auferlegten Ritualen, und auch der weltliche Alltag läuft nach einem immer gleichen Muster ab. Gottesfurcht, Fleiß, Bescheidenheit und Sparsamkeit sind die Kardinaltugenden, Eitelkeit, Verschwendung und Faulheit verpönt. Seinen drei älteren Kindern wird die Heimat jedoch zu eng: Ihre ehrgeizigen beruflichen Pläne können sie dort nicht verwirklichen. Benno wandert nach England aus, wo er sich als „Brite“ etabliert und nie wieder nach Kragsheim zurückkehrt. Karl und Paul möchten den Handwerkerstand verlassen und als Unternehmer (sie träumen von einer Schraubenfabrik) reüssieren, sie ziehen in die Großstadt Berlin, die ihnen alle Möglichkeiten verspricht. Willy, Helene und Bertha werden immer in der Nähe der Eltern bleiben und ihre Leben nach der Familientradition gestalten.

In Berlin treffen die fromm-bescheidenen Kragsheimer auf die reichen, großbürgerlich-mondänen Goldschmidts und Oppners, die durch Heirat miteinander verbunden sind. Sie sind Bankiers, Kunstsammler, Schöngeister. Als assimilierte Juden und preußische Patrioten nehmen sie ihren Glauben nicht so streng, wohl aber ein ausgeprägtes Standesbewußtsein. Sie verkehren in den besten gesellschaftlichen Kreisen, bewohnen Häuser mit adäquater Quadratmeterzahl und der passenden Ausstattung in den richtigen Vierteln Berlins (Tiergarten) und genießen das Leben in vollen Zügen. Oppners Kinder Annette, Theodor, Klärchen und Sofie sind tendenziell unambitioniert bis faul und nur auf Äußerlichkeiten bedacht; immerhin gelingt der jüngsten Tochter so etwas wie eine künstlerische Karriere. Oberste Priorität hat sowieso das Suchen und Finden standesgemäßer Ehepartner und ein privilegiertes Leben in Endlosschleife. Die Hochzeit Karl Effingers mit Annette Oppner, und später die Vermählung Paul Effingers mit Klärchen, deuten bereits einen kleinen Bruch der Gepflogenheiten an und verbindet schließlich diese beiden sehr unterschiedlichen Familien miteinander; für die Effinger-Brüder beginnt ein rasanter Aufstieg in höchste gesellschaftliche Kreise. Während Karl sich schnell an das neue Leben gewöhnt und einen sehr großzügigen Umgang mit eigenem und fremden Geld pflegt, reibt sich Paul für das gemeinsame Unternehmen auf, bleibt den anerzogenen Prinzipien treu und bringt zeit seines Lebens großes Unbehagen über den ausschweifenden Lebenstil der Berliner Verwandten zum Ausdruck.

Entlang einer sich politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich rasant verändernden Welt erzählt Gabriele Tergit nun die Geschichte dieser Familie. Eine Familie, die sich in beiden Linien immer weiter verzweigt und sich doch immer miteinander treu verbunden weiß. Obwohl es Mitglieder an zahlreiche Schauplätze verschlägt (Berlin, Kragsheim, München, Heidelberg, London, Hamburg, Russland und Palästina), schwenkt die Erzählkamera im wesentlichen zwischen Berlin und Kragsheim hin und her. Auf der einen Seite die pulsierende Metropole, ein Gewirr aus Möglichkeiten, Verführungen und Gefahren, in der sich die Welt ständig neu zu erfinden scheint; auf der anderen Seite die bodenständige Provinz, in der sich die Welt und das Leben des Einzelnen überschaubar und traditionell gestalten und Veränderungen in stark reduzierter Geschwindigkeit passieren. Am Ende aber erleben beide denselben Schrecken.

Wie schafft es die Autorin, ihre mehr als 30 Personen mit ihren unterschiedlichen Lebens- und Liebesgeschichten über 70 Jahre deutscher Geschichte hindurch so im Spiel zu halten, dass wir uns als Leser auf 900 Seiten keine Minute langweilen? Was auf den ersten Blick nach personeller und inhaltlicher Überfrachtung klingt, entfaltet sich beim Lesen als ein buntes Gemälde, ein aus vielen Mosaiksteinen stimmig zusammengesetztes, eindrucksvolles Panorama einer untergehenden Welt. Die Aufteilung des Stoffes in 152 Kapitel, der schnelle, manchmal harte und übergangslose Wechsel von Szene, Perspektive und Zeit, dazu das Fehlen einer allwissenden oder kommentierenden Erzählstimme, die in epischen Breiten die Geschehnisse entwickelt, machen es uns leicht, in diese Welt einzutauchen und uns mit den Figuren darin zu bewegen. Es spricht hier sozusagen die Zeit selbst: wechselnde Stimmungen, Strömungen, Ideen und Entwicklungen werden in direkte Rede gesetzt. Dialoge, Gespräche, beiläufige Bemerkungen, Zeitungsnachrichten oder Publikationen aus Politik und Wirtschaft bringen die Atmosphäre direkt und unmittelbar zum Ausdruck. Detaillierte und plastische Beschreibungen von Geselligkeiten, Interieurs, Accessoires, Kleidung, Moden, Ess- und anderen Gewohnheiten versetzen uns die Rolle eines Mitspielers statt Zuschauers.

Die Figuren sind vielschichtig angelegt und agieren im Verhältnis zu den großen Themen ihrer Zeit: Unternehmergeist und Industrialisierung, Emanzipation der Frauen, Auflehnen gegen den repressiven Moralkodex der Kaiserzeit, Ausbrechen aus vorgezeichneten Rollen, zwei Weltkriege, Aufstieg des Nationalsozialismus, Antisemitismus. Behandelt wird der Protest der aufbegehrenden Jugend gegen die Spießigkeit der Eltern, Fortschritt gegen Stillstand, individuelles Glück gegen Gemeinwohl; Kämpfe, die offenbar von Generation zu Generation weiter vererbt und in ständig sich verändernden Kontexten ausgefochten werden. „Effingers“ beschreibt eine untergehende Welt, den schillernden Kosmos des jüdischen, gebildeten, wohlhabenden Berliner Bürgertums. Es ist nicht die Familie, die zerfällt, sondern deren Welt mit den alten Gewissheiten. Dass sie auch – und obwohl heimatverbunden und glühend patriotisch – teilweise Opfer der Nationalsozialisten wird, ist der beschriebenen Zeit geschuldet; denn die Botschaft der Autorin ist doch, dass es bei aller bitteren Dramatik der Umstände nie zu Ende ist, sondern immer irgendwie weitergeht.

Der Roman beginnt mit einem Brief des jungen Paul Effingers an seine Eltern, in dem er aus der „großen Welt“ grüßend seine Lebensfreude zum Ausdruck bringt. Und er endet mit einem Brief des 82jährigen Pauls an seine Kinder und Enkel kurz vor der Deportation, aus dem Resignation und eine tiefe Trauer sprechen. Dazwischen liegen fast 70 Jahre erlebte Geschichte mit allen Höhen und Tiefen, die ein Leben – in guten wie in schlechten Zeiten – bereithält.

Was für ein Roman!

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