- Titel
- Die Glocke im See
- Autor
- Lars Mytting
- Genre
- Roman
- Erschienen
- 14. Januar 2019
- Verlag
- Insel Verlag
- Seiten
- 482
- Preis
- 24,00 €
- ISBN
- 978-3458177630
„Da kam sie in Sicht. Die Stabkirche. Frei in der Landschaft stehend. Selbstsicher, würdig, uralt. Dunkelbraun wie ein Bär aus dem Wald, verziert wie die Krone einer Königin, standfest wie ein Pilger. Auf eine Weise abwartend, wie ein Schloss, dessen Monarch sich auf ewiger Reise befand. Noch beeindruckender als auf Dahls Zeichnungen. Vielleicht ein wenig zusammengesackt, aber was für ein herrliches Bauwerk! Nicht besonders groß, doch von vollendeter Schönheit, das Ergebnis kühner Handwerkskunst und frei wuchernder Fantasie, beide generationenlang genährt. Bis Kunst und Fantasie abgestorben waren, er wusste nicht warum.“ (S. 105)
Fast könnte man meinen, Lars Mytting mache eine mittelalterliche Stabkirche in einem abgelegenen dunklen Tal im Norwegen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Gegenstand seines Romans „Die Glocke im See“. Und in der Tat spielt sie eine wichtige Rolle neben den Hauptpersonen. Seit Generationen führen die Menschen im Dorf Butangen ein einfaches, rückständiges Leben, während sich die Welt außerhalb dreht und verändert. Sie folgen alten Traditionen, entstanden aus der norwegischen Mythologie, vermischt mit Elementen des christlichen Glaubens. Von den Vorvätern übernommene Ansichten, Werte und Gepflogenheiten werden nicht infrage gestellt, Krisen und Schicksalsschläge hingenommen und erduldet, Veränderungen und Fortschritt skeptisch begegnet.
Bis Kai Schweigaard auftaucht: Der „Neupfarrer“, mit reichlich Ambitionen für höhere Weihen gesegnet, möchte den christlichen Glauben im Dorf stärken und gleichzeitig Verbesserungen im mühseligen alltäglichen Leben erreichen. Sein größten Vorhaben sind der Abbau der alten Stabkirche sowie der Neubau eines modernen Gotteshauses, um mehr Platz für die Gläubigen zu haben und den kirchlichen Ritualen (Hochzeit, Taufe Beerdigung usw.) einen ordnungsgemäßen und würdigen Rahmen zu geben. Damit verbunden verspricht er sich eine Rückbesinnung auf die christlichen Werte, ist dieses Bauwerk doch allzu sehr mit mythischen Elementen und Aberglauben behaftet, nicht nur, was die Ornamentik betrifft. Weil aber die traditionsreiche Kirche nicht zerstört werden soll, hat er sie an das sächsische Königshaus verkauft, in dessen Auftrag der Architekturstudent Gerhard Schönauer anreist, um den Abbau zu überwachen und die Überführung nach Dresden zu organisieren, wo sie in ihrer ganzen Pracht wieder aufgebaut werden soll. Dann ist da noch die junge Astrid Hekne, aus einer alteingesessenen, hochangesehenen Bauernfamilie stammend, die aus ihrem vorgezeichneten Frauenleben (Feldarbeit, Heirat, Kinderkriegen) ausbrechen und lieber wissen möchte, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Mit ihrer Sehnsucht nach einer besseren Welt setzt sie schließlich eine (Liebes)Geschichte in Gang, wie sie dramatischer nicht sein könnte.
Düster und melancholisch wie ein langer norwegischer Winter hält die Geschichte Einzug in das Herz des Lesers. Ein dickes Fell braucht man nicht nur, um die Beschreibungen der winterlichen Landschaften und Temperaturen auszuhalten, die einem beim Lesen unter die Haut kriechen, sondern auch – und vor allem – die Widerfahrnisse und Traurigkeiten, die über die Protagonisten hereinbrechen. Doch immer sind da auch wärmende Sonnenstrahlen, die im wörtlichen und übertragenen Sinne die Stimmung aufhellen.
Der Zugang zur Geschichte ist ein wenig holprig; man muss sich erst an Sprachstil und Erzählton gewöhnen, die aber hervorragend zu den Geschehnissen passen. Wenn man sich nämlich darauf einlässt und bereit ist, in diese Welt einzutauchen, wird man mit einem faszinierenden Roman belohnt.
„Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden“.
Søren Kierkegaard
Dieser Gedanke des großen dänischen Philosophen könnte das Motto der drei Hauptpersonen sein, jeweils ein wenig anders interpretiert. Der „Neupfarrer“ Kai Schweigaard möchte eine Verbesserung der Lebensqualität für die Menschen vor Ort erreichen. Als Mann der Kirche ist er zwar seinem Glauben verpflichtet, aber die Lösungen müssen auch pragmatisch sein. Aberglaube ist da eher hinderlich, jedoch in bestimmten Ausformungen zu respektieren. Der Architekturstudent Gerhard Schönauer ist in erster Linie der Bewahrung von Kultur verpflichtet. Aufgewachsen im fortschrittlichen und modernen Dresden, kann er sich nur über die hinterwäldlerischen Norweger und ihre Rückständigkeit wundern. Aber er lernt auch, dass er die Architektur der Kirche nur dann umfassend begreifen kann, wenn er sich zugleich mit den mystischen Elementen/Ornamenten beschäftigt. Und Astrid Heknes sehnlicher Wunsch nach einem Aufbruch in eine neue Zeit treibt sie in den inneren Konflikt, sich zwischen Tradition und Moderne entscheiden zu müssen.
Gebannt folgt man den drei Hauptfiguren, wie sie versuchen, ihre Hoffnungen auf eine bessere Welt zu realisieren und dabei immer wieder an den Umständen scheitern. Parallel dazu entfaltet sich die Legende der titelgebenden Glocke; die Überlieferung macht die ganze Tragweite ihrer Bedeutung für das Dorf und vor allem für Astrid, sichtbar. Durch das geschickte Verweben der einzelnen Erzählabschnitte mit Informationen zur Historie der Kirchenbaukunst in Norwegen, baut Mytting einen Spannungsbogen auf, der seinen Leser nicht aus der Geschichte entlässt, sondern ihn immer tiefer in sie hineinzieht.
Großes Kino!
Dieser Roman ist vom Autor als Auftakt einer Trilogie gedacht. Da aber alle Fäden miteinander verknüpft und am Ende zu einem Ganzen zusammengeführt werden, bleibt keine Frage offen. „Die Glocke“ kann also auch als einzelner Roman gelesen werden; er ist inzwischen als Taschenbuch verfügbar.