Déjà-lu? Bücher


Titel
Der Mann, der seinem Gewissen folgte
Autor
Janet Lewis
Genre
Erschienen
13. November 2020
Verlag
dtv
Seiten
272
Preis
11,00 €
ISBN
978-3423147637
SchönBuchHandlung

„Sören Qvist ist einer jener außergewöhnlichen Menschen, die lieber ihr Leben lassen, als eine Welt ohne Plan und Bedeutung zu akzeptieren.“

Janet Lewis: „Der Mann, der seinem Gewissen folgte“

Zu den spannendsten literarischen Entdeckungen der letzten drei Jahre gehören für mich zweifellos die Werke der US-amerikanischen Autorin Janet Lewis (1899-1998). Mit „Die Frau, die liebte“, „Der Mann, der seinem Gewissen folgte“ und „Verhängnis“ verarbeitet sie romanhaft drei spektakuläre Fälle aus einer dem 19. Jahrhundert stammenden Sammlung historischer Justizirrtümer, die sich ihrerseits ca. 300 Jahre zuvor in Frankreich bzw. Jütland zugetragen haben. Dem Leser werden auf diese Weise mehrere Zeitschichten sichtbar gemacht: Das Ereignis selbst, seine Aufnahme in die Sammlung der kuriosen Justizfälle, ihre literarische Verarbeitung durch Janet Lewis in den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts und aktuell die Übersetzung in die deutsche Sprache. Eingebettet in den jeweiligen gesellschaftsgeschichtlichen Kontext erzählt sie von Menschen, die standhaft um ihre moralische Integrität kämpfen und in letzter Konsequenz bereit sind, für ihre Werte zu sterben.

In „Der Mann, der seinem Gewissen folgte“ entführt uns die Autorin in ein kleines Dorf in Jütland zu Beginn des 17. Jahrhunderts. An einem düsteren Novembertag 1646 taucht im Wirtshaus der Gemeinde Aalsö ein unbekannter Wanderer auf, der einen äußerlich verwahrlosten und auch sonst ziemlich befremdlichen Eindruck auf die Bewohner macht:

„Sie (die Wirtin) musterte ihn weiter, vielleicht hoffte sie, doch noch etwas zu finden, das ihre ablehnende Haltung ändern würde. Dass der Mann erschöpft war, sah sie deutlich an seiner grauen Haut und dem erschlafften Gesicht. Er war nicht rasiert, die untere Gesichtshälfte war schwarz von Bartstoppeln, und das strähnige schwarze Haar, in das sich etwas Grau mischte, fiel auf den Kragen seines Wamses. Er trug kein Leinen, aber dem Wams sah man an, dass es einst ein gutes Stück gewesen war, es bestand aus rotem gefüttertem Satin, die Steppnähte waren mit goldenem Faden in einem Rautenmuster genäht, und es hatte Volants im französischen Stil. Jetzt war es schmutzig und am rechten Ellbogen gerissen. Sehr gut möglich, dass er Soldat gewesen war. Über diesem feinen französischen Wams trug er eine schwere Lederweste, und darüber war ein Lederband diagonal über eine Schulter geschlungen, in dem er eine Pistole oder ein Messer bei sich hätte tragen können. Der linke Ärmel seines Wamses war ab dem Ellbogen leer und steckte hochgeklappt im Armloch der Lederweste. Seine zerschlissenen derben Stiefelhosen wollten nicht recht zu dem purpurnen Wams passen. Der Hut, den der Mann unter seinem rechten Arm hielt, war mit den Jahren grün geworden und hatte weder Feder noch Schnalle. Die kleinen grünen Augen in dem erschöpften Gesicht des Mannes waren auf die Wirtin geheftet und bar jeden Ausdrucks, außer dem von Hunger. Unterwürfigkeit und Furcht waren daraus verschwunden.“

S. 9/10

Dieser mysteriöse Fremde behauptet nun, Niels Bruus zu sein, der Bruder von Morton Bruus, dem reichsten und unbeliebtesten Mann im Ort. Diese Aussage ist verwunderlich, denn Morton ist kürzlich verstorben und Niels bereits vor etwa 20 Jahren gewaltsam zu Tode gekommen – seine Leiche wurde im Garten des damaligen Pastors Sören Qvist ausgegraben. Um als rechtmässiger Erbe an das Vermögen seines Bruders zu kommen, muss der „wiederauferstandene“ Niels den Dorfbewohnern seine Identität glaubhaft versichern; dazu erhofft er sich die Hilfe von ebendiesem Sören Qvist. Als er, zu seiner großen Verwunderung, von dessen Hinrichtung für ein vermeintliches Verbrechen hört, tischt er den Leuten eine ebenso verwegene wie unfassbare Geschichte auf.

Bis zu diesem Zeitpunkt schreitet die Erzählung gemächlich und unspektakulär voran. Der Leser taucht ein in die frühneuzeitliche Atmosphäre eines jütländischen Dorfes unter der Regentschaft Christians IV. Mit der Ankunft eines Fremden und den anschließenden Gesprächen im Wirtshaus gelingt Janet Lewis die übliche Einleitung in einen historischen Roman. Allerdings treibt sie die Geschichte auf diesem Weg nicht weiter voran, sondern macht eine abrupte Kehrtwende und erzählt in der Rückblende das dramatische Geschehen, das sich 20 Jahre zuvor zugetragen und zur Verurteilung des Pastors geführt hat.
Und wir Leser folgen den verschlungenen Pfaden eines Schicksals, das am Ende erbarmungslos zuschlägt. Im Mittelpunkt steht ein zutiefst gottesfürchtiger Mann mit festen moralischen Prinzipien, der bekannt ist für seine Menschenfreundlichkeit, Herzensgüte und Großzügigkeit; der aber auch mit einem Jähzorn zu kämpfen hat, unter dem er sehr leidet. Die Konfrontation mit einem (angeblichen) Verbrechen und die anschließende üble Verleumdungskampagne stürzen ihn in einen unerträglichen Gewissenskonflikt und ein hartes Ringen mit seinem Glauben. Gegen alle Vernunft nimmt er schließlich eine schwere Schuld auf sich, fühlt er sich doch ausschließlich seinen moralischen Prinzipien verpflichtet, und diese hat er in seinen Augen verraten.

„Du weißt mehr als irgendjemand sonst“, sagte er, „wie sehr ich gelitten habe. Schließlich warst du so lieb und bist jeden Tag an diesen abscheulichen Ort gekommen. Nicht das Gewicht der Ketten, nicht die Angst vor dem Tod, sondern der Gedanke, dass Gott mir gegenüber ungerecht war, hat meine Seele mit solcher Bitterkeit erfüllt, und das kann ich niemals tief genug bereuen. In meinem Herzen habe ich meinem Erlöser gegrollt, weil ich als Mörder gelten sollte. Aber ich hatte die innerste Tür meines Geistes vor der Erkenntnis meiner eigenen Schadhaftigkeit verschlossen. Statt meiner Sünde ins Gesicht zu sehen, habe ich meinem Gott wegen seiner Grausamkeit mir gegenüber gezürnt und wegen seiner Ungerechtigkeit. Hätte ich nicht wissen müssen, dass Gott, der Güte selbst ist, niemals ungerecht sein kann?“

Sören Qvist zu seiner Tochter Anna, S. 244

Um den Protagonisten herum gruppiert die Autorin viele Figuren, die typische „Kinder ihrer Zeit“ sind, und die auf ebenso vielfältige wie eindrückliche Weise ihr eigenes Leben den religiösen, politischen und wirtschaftlichen Umständen gemäß zu führen versuchen. Obwohl die historischen Fakten gut recherchiert sind, geht es Janet Lewis nicht um ein üppig ausgestaltetes Historiengemälde. Vielmehr lässt sie uns Leser eintauchen in Seelenlandschaften, in denen große Themen wie Schuld und Sühne, Versuchung und Wiedergutmachung, Prüfung und Erlösung ausgefochten werden.

Deshalb, liebe Bücherfreunde, kommt die Erzählung aus dem 17. Jahrhundert auch nicht antiquiert oder verstaubt daher, sondern höchst aktuell: Sie stellt uns die Frage, wer und wie wir eigentlich sein möchten; wie es um unsere eigenen Werte bestellt ist, und wie wir es mit der Moral und unserem Gewissen halten.

Diese Seite verwendet Cookies, um angemeldete Nutzer zu erkennen. Es werden keine Cookies zu Tracking- oder Analysezwecken eingesetzt. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen