- Titel
- Der Gesang der Flusskrebse
- Autor
- Delia Owens
- Genre
- Roman
- Erschienen
- 22. Juli 2019
- Verlag
- hanserblau
- Seiten
- 464
- Preis
- 22,00 €
- ISBN
- 978-3446264199
„Es gibt so viele Bücher, dass es keinen Sinn hat, welche zu lesen, die einen langweilen.“
Gabriel García Márquez
Wenn eine erfolgreiche Zoologin, die über einen langen Zeitraum Großwild in diversen afrikanischen Ländern beobachtet und darüber Sachbücher geschrieben hat, mit 70 Jahren ihr Romandebüt feiert, das ganz andere Themen zum Gegenstand hat, dann kann man schon mal skeptisch sein und sich im Stillen Gedanken über die Qualität eines solchen Werkes machen. Aber ich kann Entwarnung geben: Ich habe es die ganzen 457 Seiten lang genossen und mich keine Sekunde gelangweilt! Schon länger hatte ich das Buch im Visier, dann wurde es mir wärmstens empfohlen, schließlich habe ich es gekauft und endlich auch gelesen. Zum Glück.
Delia Owens erzählt eine ganz außergewöhnliche Geschichte vom Erwachsenwerden eines Mädchens und seinem Überlebenskampf unter extremen Bedingungen.
Kya Clark lebt mit ihren Eltern und fünf größeren Geschwistern irgendwo in den Sümpfen North Carolinas. Es sind die 50ger, für die Familie alles andere als goldene Jahre, denn nichts ist in Ordnung: Der Vater, ein traumatisierter Kriegsveteran, hat sich und sein Leben nicht im Griff; er trinkt und misshandelt Frau und Kinder. Das wenige Geld reicht gerade so zum Überleben in einem baufälligen Haus, weit außerhalb der Zivilisation und schwer erreichbar – fast nur mit einem Boot über das Wasser. In der Stadt sind die Menschen aus dem Marschland wenig respektiert und als „weißes Pack“ oder „Sumpfgesindel“ verschrieen.
„Marschland ist nicht gleich Sumpf. Marschland ist ein Ort des Lichts, wo Gras in Wasser wächst und Wasser in den Himmel fließt. Träge Bäche mäandern, tragen die Sonnenkugel mit sich zum Meer, und langbeinige Vögel erheben sich mit unerwarteter Anmut – als wären sie nicht fürs Fliegen geschaffen – vor dem Getöse Tausender Schneegänse. Doch auch im Marschland schleicht sich hier und da echter Sumpf in tiefliegende Moore, verborgen in feuchtkalten Wäldern. Sumpfwasser ist still und dunkel, hat das Licht mit seinem schlammigen Schlund verschluckt. Selbst nachtaktive Regenwürmer kriechen in diesem Refugium tagsüber umher. Es gibt Geräusche, natürlich, aber verglichen mit der Marsch, ist der Sumpf still, denn Verwesung ist ein zelluläres Geschäft. Leben zerfällt und stinkt und wird erneut zu Humus; ein elender Schlamm des Todes, der Leben erzeugt.“
Prolog, S. 11
In dieser sehr poetisch beschriebenen Umgebung also findet Kyas Geschichte statt, die geprägt ist vom Willen zu überleben, vom Kampf gegen Einsamkeit, Verlust und Trauer sowie von der Suche nach Bestimmung, Liebe und Sicherheit. Das Mädchen ist sechs Jahre alt, als die Mutter die Familie im Stich lässt, drei ihrer Geschwister das Weite suchen und der letzte verbliebende Bruder nach einiger Zeit ebenfalls abhaut. Allein mit dem Vater erlebt das Mädchen wider Erwarten ein gutes Jahr, in dem sie einander näherkommen und sich gegenseitig ein wenig Halt geben. Von ihm lernt es ein paar überlebensnotwendige Fertigkeiten, doch dann plötzlich verschwindet auch er und Kya ist fortan auf sich allein gestellt. Versuche der Behörden, ihr wenigstens den Schulbesuch zu ermöglichen, laufen ebenso ins Leere wie die Hoffnung auf Rückkehr der Eltern. Ihr Kontakt zur Außenwelt beschränkt sich auf die erst spärlichen, später regelmäßigen Besuche eines farbigen Kioskbesitzers – auch er ein gesellschaftlicher Außenseiter -, bei dem sie Lebensmittel und Benzin einkauft und kleinere Geschäfte tätigt. Lange Zeit gibt es niemanden, der ihr Wissen vermittelt, ganz zu schweigen davon, ihr die Welt erklärt. Ihren Alltag verbringt Kya damit, die Weiten der Marschlandschaft zu durchstreifen, Flora und Fauna intensiv zu beobachten und zu begreifen. Durch ein tiefes Verständnis der Natur hofft und versucht sie, auch ihren eigenen Körper und die Seele zu verstehen. Ihr angesammeltes Wissen über Muscheln, Krebse, Vögel, Gräser etc. ist immens und ihre akribische Dokumentation der Funde macht sie zu einer Autorität auf diesem Gebiet und wird ihr viele Jahre später zur Profession. Ihren Weg des Erwachsenwerdens kreuzen auch zwei junge Männer, die ihr auf sehr unterschiedliche Weise beim Überleben helfen und versuchen, sie aus ihrer Isolation zu retten. Unversehens kommt zu der „Coming-of-Age-Geschichte“ eine ergreifende Liebesgeschichte hinzu, und als im Sumpf eine Leiche gefunden wird, entspinnt sich mit einem packenden Gerichtsdrama ein weiterer Erzählstrang. Geschickt springt die Autorin dabei zwischen den erzählten Zeiten hin und her und verbindet ihre Themen wie Mosaiksteinchen, die am Ende ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Der Leser erfährt die bedrückende Geschichte der Familie Clark und bekommt eine Ahnung der amerikanischen Gesellschaft jener Zeit in diesem Teil North Carolinas. Mittendrin agiert die Hauptperson Kya, die allen Widrigkeiten zum Trotz, beinahe nur die Natur an ihrer Seite, ihren eigenen Weg findet. Eine anrührende Figur, deren Entwicklung vom verängstigten, verlassenen, ungebildeten, naiven Kind zur wissenden, mutigen, starken jungen Frau imponiert.
„[…] das „Marschmädchen“ Kya gehört schon jetzt in eine Reihe mit Mark Twains Huckleberry Finn, J.D. Salingers Holden Caulfield oder Harper Lees Scout Finch.“
Spiegel Online vom 24.07.2019
Es gehört wohl zu den beeindruckendsten Lesemomenten, wenn Delia Owens die grandiose Schönheit der Marschlandschaft und der darin lebenden Tiere mit poetischen Worten beschreibt. Wenn die Herrlichkeit der Natur mit der Verlassenheit des Mädchens einhergeht. Wenn raumgreifende Stille und Einsamkeit während der Lektüre spürbar werden und zu Herzen gehen. Vielleicht entspringt diesen Zeilen ja eine stille Sehnsucht nach einer besseren Welt, in Zeiten, wo uns permanente Bedrohungsszenarien durch menschengemachte Umweltzerstörungen aufscheuchen. Man kann sich der Faszination dieser unbedingten Hingabe an die Natur – abgesehen von der tragischen Geschichte, die dahinter steckt – einfach nicht entziehen. Ganz sicher regt dieser Roman auch an, darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist im Leben.
Inhaltlich interessant und ergreifend, sprachlich und erzählerisch mitreißend.
Ob zum Selberlesen oder Verschenken: Dieses Buch ist einfach unwiderstehlich!
Nachtrag: Das Ende überrascht.