- Titel
- Der ehemalige Sohn
- Autor
- Sasha Filipenko
- Genre
- Nicht angegeben
- Erschienen
- 24. März 2021
- Verlag
- Diogenes Verlag
- Seiten
- 320
- Preis
- 22,00 €
- ISBN
- 978-3257071245
„Für das Wort und Die Freiheit“
Das ist das aktuelle Motto des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V. und wird von den Verlagen und Buchhandlungen getragen. Der von mir besprochene Roman ist in Belarus quasi verboten, und seinem Autor droht bei einer Einreise in sein Heimatland der Entzug der Freiheit.
„Der ehemalige Sohn“ ist der Debütroman des jungen belarussischen Schriftstellers Sasha Filipenko. Erschienen ist er im Original bereits 2014, aber erst im Frühjahr 2021 auf deutsch publiziert worden. Viel beachtet wurde sein zweiter Roman „Rote Kreuze“, der 2020 auf den hiesigen Buchmarkt gekommen ist.
„Der ehemalige Sohn“ ist der 17jährige Schüler Franzisk, der zum Cellisten ausgebildet werden soll, aber keine Lust auf eine Musikerkarriere, die nie wirklich eine sein würde, hat. Aus diesem Grund interessiert es ihn auch nicht, wie die Konferenz, die an jedem Schuljahresende über Verbleib oder Ausschluss aus dem Lyzeum entscheidet, in seinem Fall verfahren wird. Lieber besucht er mit seinen Freunden ein Konzert und feiert. Auf dem Weg dorthin werden die Menschen in Minsk von einem Unwetter überrascht und suchen Zuflucht in einer Unterführung. Das Gedränge artet schnell in eine Massenpanik aus, die für viele zur tödlichen Falle wird. Franzisk wird dabei so schwer verletzt, dass er ins Koma fällt. Weder die Ärzte noch seine Mutter oder andere aus seinem persönlichen Umfeld glauben an eine Genesung; die Sache scheint aussichtslos. Einzig seine Großmutter und sein bester Freund Stass geben die Hoffnung nicht auf, dass der Enkel eines Tages aus dem Dämmerschlaf erwachen wird. Allen Widerständen zum Trotz und mit großem finanziellen Aufwand richtet sich die Großmutter im Krankenzimmer häuslich ein und wacht tagein, tagaus über die Gesundung des Patienten. Das Wunder geschieht und nach 10 langen Jahren wacht Franzisk tatsächlich auf! Allerdings erlebt seine „Babuschka“ das nicht mehr, sie ist tragischerweise kurz zuvor verstorben. Erwartbar wäre nun eine lange Phase der Rehabilitation, ein langsames sich Gewöhnen an veränderte Umstände, an eine neue Zeit. Doch Franzisk kann fast nahtlos an sein altes Leben anknüpfen: Allein seine familiären Verhältnisse haben sich geändert; seine Mutter lebt in einer neuen Familie, in der für den „ehemaligen Sohn“ kein Platz mehr ist. Der gesellschaftspolitische Rahmen ist im Prinzip gleich geblieben, allerdings noch enger gesteckt und mit ein paar bestenfalls kosmetischen Reparaturen versehen. Zusammen mit Stass versucht Franzisk, diese Welt zu entdecken: Beobachtend, staunend, hoffend.
Während der Autor die Geschichte des Franzisk erzählt, entfaltet sich tatsächlich vor den Augen des Lesers das Panorama einer 15jährigen Diktatur in Belarus. Die Beschreibung der Atmosphäre während der Schulkonferenz zu Beginn des Romans, die Geschichten, Berichte und Kommentare, mit denen die Großmutter ihren Enkel „wachrütteln“ möchte, und nicht zuletzt die eigenen Erlebnisse des genesenen Patienten im letzten Drittel zeichnen sehr deutlich das Bild einer unfreien Gesellschaft und offenbaren die ganze Dramatik unterdrückter Menschen. Jede Person in diesem Roman hat nicht nur eine für die Geschichte bestimmte Funktion, sondern eine über die Handlung hinausgehende, übergeordnete Bedeutung. Durch die Anordnung dieser Figuren und ihrem Zusammenspiel geht der Roman über das rein Literarische hinaus und bekommt eine hochpolitische und topaktuelle Dimension.
Sasha Filipenko hat in diese Fiktion viele historische Fakten und selbst Erlebtes eingearbeitet, was das Erzählte glaubwürdig erscheinen lässt. Dass an vielen Stellen Humor aufblitzt, nimmt dem ernsten Thema keinesfalls die Schärfe.
„Dieses Buch ist ein Versuch zu analysieren, warum mein Land eines Tages in einen lethargischen Schlaf sank, aus dem es scheinbar gar nicht wieder aufwachen wollte. Dieses Buch ist (zumindest hoffe ich das) eine Erklärung dafür, warum die Belarussen 20202 nicht mehr weiterschlafen wollten und aus ihrem Koma erwachten. Dieses Buch ist ein Versuch zu begreifen, warum wir zu ehemaligen Söhnen und Töchtern des eigenen Landes und ehemaligen Kindern der eigenen Eltern wurden. Dieses Buch ist im Grunde ein Lexikon von Anlässen, ein Wörterbuch von Gründen für die Belarussen, ihre Häuser zu verlassen.“
(Sasha Filipenko, aus dem Vorwort zu „Der ehemalige Sohn“)
Ich war gefesselt von einem Buch, das mich viel Neues über die Verwundungen eines Landes mitten in Europa gelehrt hat. Ich bin tief beeindruckt von einem Autor, der versucht das Richtige zu tun und Schreiben als (s)einen Beitrag zum Aufwachen seines Heimatlandes aus der Lethargie betrachtet. Der es als (s)eine Verpflichtung ansieht, Wahrheit ans Licht zu bringen, auch wenn das existenzbedrohend sein kann.
Seinen Roman „Rote Kreuze“ werde ich als nächstes lesen.