Seit vielen Jahren schon bin ich ein großer Fan von Hörbüchern. Vor allem auf langen, einsamen Autofahrten sind sie der ideale Reisebegleiter. Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden habe, welche Geschichten mir die Fahrzeit angenehm gestalten und welche sich nicht zum „Nebenbeihören“ eignen. Inzwischen möchte ich ungern auf diese Art der Unterhaltung verzichten und ich habe sie darüber hinaus beim Bügeln, Joggen, auf dem Laufband oder Heimtrainer zu schätzen gelernt.
Die Auswahl eines geeigneten Hörbuchs kann sich ebenso schwierig gestalten wie die der gedruckten Variante zum Lesen. Nicht alle Inhalte sind gehört so spannend wie selbst gelesen, nicht alle Sprecher lesen gut. Deshalb habe ich heute ein Hörbuch für Euch, das mich ausnehmend gut unterhalten hat und von dem ich mir sogar vorstellen könnte, später einmal auch noch das Buch zu lesen.
„Eine unvergleichliche, wahre Begebenheit der Literaturgeschichte und eine große Geschichte über die Liebe.“
Die eine Hälfte des Romans „Alles, was wir sind“ von Lara Prescott spielt in der Sowjetunion, die andere ereignet sich zeitgleich in den USA. Wer kennt heute noch das opulente und zu Herzen gehende Werk „Doktor Schiwago“ des russischen Schriftstellers Boris Pasternak? Vielleicht ist dem ein oder anderen der Titel geläufig, der Inhalt grob bekannt oder die oscarprämierte, wenn auch gegenüber der Vorlage stark veränderte Verfilmung aus dem Jahr 1965 im Gedächtnis; in den Hauptrollen: Omar Scharif, Julie Christie, Geraldine Chaplin, Rod Steiger und Sir Alec Guinness. So emotional und aufwühlend der Inhalt des Romans, so dramatisch ist seine Entstehung und Verbreitung: 1956 fertiggestellt, wurde er in der Sowjetunion sofort und für lange Zeit wegen der angeblich kritischen Darstellung der Oktoberrevolution mit einem Publikationsverbot belegt. 1957 gelangte das Manuskript auf abenteuerlichen Wegen zum Mailänder Verlag Feltrinelli, der es auf italienisch übersetzte und veröffentlichte. Ein Jahr später konnte in Den Haag eine von der CIA gesponsorte russische Originalausgabe auf den Markt gebracht werden. Der Hintergedanke der Amerikaner war, diese Ausgabe in der Sowjetunion zu verbreiten und den russischen Lesern zugänglich zu machen, sozusagen als Propagandamittel einzusetzen. Was wie eine veritable Räuberpistole klingt, ist tatsächlich so passiert. Nebeneffekt war, dass Pasternak dafür den Literaturnobelpreis verliehen bekam, ihn aber aus politischen Gründen ablehnen musste. Erst 1988, mit Beginn der Perestroika, wurde „Doktor Schiwago“ in der Sowjetunion veröffentlicht.
Lara Prescott erzählt nun diese Entstehungs- und Publikationsgeschichte mit viel Faktenwissen – sie hat die entsprechenden Orte und Archive aufgesucht und hüben wie drüben gründlich recherchiert – und soviel literarischer Freiheit wie möglich, um eine spannende Story für den Hörer daraus zu machen. Im ständen Wechsel der Perspektive schlägt die Autorin das Erzählpendel zwischen den USA und der Sowjetunion gleichmäßig hin und her. In Zeiten des Kalten Krieges wird bei der CIA der abenteuerliche Plan geboren, Literatur als „Waffe“ zu installieren, um in der Sowjetunion den Geist des Widerstandes gegen den Kommunismus zu wecken. Ein Netz aus Agenten beginnt mit der Jagd auf das Manuskript von „Doktor Schiwago“. Gleichzeitig kämpft auf der anderen Seite Boris Pasternak erst um seine künstlerische Freiheit, dann auch um sein Überleben. Schließlich gibt er auf. Einzig Olga, seine Muse und Geliebte, bleibt treu an seiner Seite und versucht alles – auch unter dramatischen Umständen – um den Roman zur Veröffentlichung zu bringen. Doch nicht nur die CIA interessiert sich für das Manuskript, und so beginnt eine regelrechte Jagd quer durch Europa.
Dass die Autorin ausschließlich aus weiblicher Perspektive erzählt, verleiht der Geschichte einen besonderen Reiz. Im Verlauf der Handlung erfährt man interessante Fakten über die vielen unterschiedlichen Frauen in Ost und West, die im Kontext dieser Zeit an dem Projekt beteiligt waren, sodass der Roman neben seinem Kernthema auch eine Geschichte der Emanzipation der Frauen in den 50ger Jahren beinhaltet. Von einer großen Liebesgeschichte ganz zu schweigen.
Das Hörbuch wird von Vera Teltz wie gewohnt mitreißend erzählt. Ich habe jedenfalls große Lust bekommen, „Doktor Schiwago“, dieses Meisterwerk der russischen Literatur mit dem neuen Hintergrundwissen noch einmal zu lesen. Vor allem, wenn ich mir dabei Omar Scharif vorstelle, wie er durch die Weiten der sibirischen Tundra reitet…