Geschenke?!
Notiz / 9. Dezember 2019
Ich weiß nicht, wie Ihr es haltet, liebe Bücherfreunde, aber ich schenke meinen Lieben zu Weihnachten immer zwischen zwei Pappdeckel gepresste Geschichten. Dass ich dabei gerne Bücherwünsche erfülle, versteht sich von selbst. Aber noch mehr Spaß macht es, Menschen mit Lesestoff zu beglücken, die sich gar keinen gewünscht haben! Damit es am Ende jedoch statt entgleister Minen fröhliche Gesichter gibt, ist die Auswahl entscheidend. Schon lange vor dem Fest streife ich deshalb durch die Bücherlandschaft, lasse mich inspirieren und suche entsprechende Titel aus. Und weil die Geschmäcker sehr verschieden sind, nimmt die Suche sehr viel Zeit in Anspruch. Aber das ist für mich noch viel schöner als Schuhe kaufen! Das Schlendern durch die Buchhandlung, der Geruch der Bücher, der mir in diesen Tagen besonders verlockend erscheint, die unerwarteten Funde, die literarischen Kleinodien und überhaupt die ganze gemütliche Atmosphäre – beim kleinen, charmanten Buchhändler vor Ort selbstverständlich – verursachen nicht den geringsten Stress, sondern beruhigen die strapazierten Adventsnerven und steigern die Vorfreude auf das Schenken.
Ab heute werde ich Euch regelmäßig Bücher vorstellen, die sich zum Verschenken eignen, falls Ihr noch Anregungen benötigt. Wenn Ihr Eure Buchpräsente schon unter den Tannenbaum gelegt habt, dann könnt Ihr ja für den Eigenbedarf schauen.
Viel Spaß beim Stöbern!
„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“
L. Tolstoi: Anna Karenina
Ich möchte auf drei Familienromane hinweisen, die sowohl inhaltlich wie auch kompositorisch und sprachlich sehr unterschiedlich sind.
Der Roman „Die Königin schweigt“ ist am wenigsten eine Familiengeschichte. Es wird im Wesentlichen das Leben der alten Bauerstochter Fanny erzählt, die sich den Fragen der Enkelin zu ihrer Vergangenheit verweigert. Der Leser erfährt die Geschichte, die in den 30er-Jahren beginnt, aber trotzdem, denn die Erinnerungen tauchen auf und ziehen Stück für Stück an Fanny vorbei, während sie alt und einsam in ihrem Haus auf den Tod wartet. In kurzen Kapiteln entfaltet sich das Leben einer Frau, die immer hart, demütig und ohne Klagen gearbeitet hat, von tragischen Schicksalsschlägen gebeutelt wurde und wenig Freude erfahren hat. Emotional unfähig, gegen die Umstände zu kämpfen, hat sie sich stets an die Verhältnisse angepasst und eingefügt; gehandelt haben andere. Die Autorin beobachtet ihre Protagonistin genau, erzählt unaufgeregt und reduziert und schafft dadurch eine unglaublich eindringliche Atmosphäre.
Der Titel „Die Leben der Elena Silber“ deutet es schon an: Die Protagonistin hatte nicht nur ein Leben, sondern mehrere. Ausgehend von seiner eigenen Standortsuche, seinem Platz im Leben und der Frage „warum ist Familie so wie sie ist?“, spürt Alexander Osang seiner Großmutter nach und folgt ihren Spuren von den 1940ern bis heute. Diese führen von Russland nach Deutschland und wieder zurück. Er erfährt die Geschichte dieser Elena und ihrer vier Töchter, von denen eine die Mutter des Autors ist. Es ist eine spannende Reise durch das 20. Jahrhundert, die schicksalhafte Routenänderungen und Wendungen erfährt und Ereignisse aus der Vergangenheit freilegt, die mutmaßlich Auswirkungen auf die Leben der nachfolgenden Generationen hatten oder noch haben. Das ist für uns heutige Leser auch deshalb interessant, weil wir mit dem Romanpersonal eintauchen dürfen in Welten und Umstände, die wir uns nicht vorstellen können.
Franziska Hauser erzählt uns mit „Die Gewitterschwimmerin“ eine noch opulentere, auch autobiografisch gefärbte, Familiengeschichte. Sie spannt den Bogen zwischen den Jahren 1883 bis 1975, und ihre Familie ist noch verzweigter, noch verstrickter in die Ereignisse ihrer Zeit. Durch dieses Jahrhundert der Extreme bewegen sich vier Generationen der jüdischen Familie Hirsch mit genauso extremen Lebensläufen. So wie die Umstände diese Menschen prägte, so prägten diese Menschen ihrerseits die Zeit. Mitglieder der Familie waren Verfolgte, Widerstandskämpfer, Opportunisten, Künstler…; menschlich und moralisch häufig von zweifelhaftem Ruf. Diesen Roman zu lesen erfordert etwas Zeit und Muße. Auf den ersten Blick scheint er keine geordnete Erzählstruktur zu haben; vielmehr reihen sich die Ereignisse episodenhaft aneinander und haben eher den Charakter eines Konvoluts aus Geschichte und Geschichten, die sich in zwei Handlungssträngen (Vergangenheit und Gegenwart) aufeinander zu bewegen. Sprachlich ein wenig sperrig, man muss sich erst hineinlesen. Aber wenn man sich darauf eingelassen hat, wird man mit der Bekanntschaft einer höchst eigenwilligen Sippe belohnt!