Déjà-lu?


Das Interview

Notiz / 27. April 2023

Liebe Bücherfreund:innen,

eine unserer letzten Veranstaltungen auf „Literaturkreis.online“ war die Diskussion mit dem deutsch-kanadischen Autor Herminio Schmidt über seinen Roman „Sehnsucht nach Pascasio“. Zu Gast waren Teilnehmer:innen im Alter von 30 – 87 Jahren, die viele Fragen zum Buch und an den Autor persönlich stellen konnten. Das Gespräch mit dem sehr sympathischen und gut aufgelegten Herminio Schmidt war überaus interessant. Am Ende herrschte die einhellige Meinung, dass „Sehnsucht nach Pascasio“ nicht nur spannenden Lesestoff bietet, sondern eine Botschaft für alle Generationen transportiert.

Für alle, die nicht live dabei sein konnten, habe ich die wichtigsten Fragen der Teilnehmer:innen aufgegriffen. Viel Spaß beim Lesen des Interviews!

Ursula: Warum gerade jetzt diesen Roman? Gibt es einen Auslöser oder eine konkrete Situation für Dein Schreiben?

Herminio: Die Gründe für die Veröffentlichung des Romans im deutschen Sprachraum (das Original ist auf Englisch in Kanada erschienen) sind sowohl aktueller als auch emotionaler Natur. Wir sind uns alle der momentanen Situation in der Ukraine bewusst. Mein Thema behandelt nicht direkt den Krieg in der Ukraine, sondern zeigt die unsichtbaren Folgen, die jeder Krieg bei den Überlebenden hinterlässt. Das passt zeitlich mit Aspekten im Roman zusammen.

Als in Deutschland der Krieg ausbrach, waren mein Bruder und ich kleine Kinder. Wir erlebten, wie der Vater plötzlich aus der Wohnung stürmte, um nie wieder zurückzukehren. Das unerklärliche Verschwinden des Vaters musste aufgeklärt werden. Unser spanischer Vater Pascasio war weder Jude, noch Sinti oder Roma. Stattdessen betrieb er ein lukratives Pressebüro in Berlin – mit großzügiger Unterstützung der Nationalsozialisten. Daher hinterließ sein Verschwinden bei uns Kindern und unserer deutschen Mutter eine große Bestürzung.

Die Suche nach dem Vater wurde zu einem lebenslangen Wunsch. Wir mussten einfach die mysteriösen Hintergründe aufdecken. Diese emotionale Reaktion war ein starker Auslöser.

Zusammengefasst will ich sagen: Ein Krieg bringt nicht nur materielle und physische Schäden, sondern hinterlässt viele emotionale Nebenwirkungen, die oft von den Medien unter den Teppich gekehrt werden. Meiner Meinung nach ist der Roman zeitgemäß, denn er enthält viele Parallelen zur heutigen Zeit. Mein Wunsch, das Geheimnis vom Verschwinden meines Vaters zu enträtseln, reizte mich wie ein Detektiv auf Spurensuche. Es trieb mich nach Spanien, Kuba und die Kanarischen Inseln.

Ursula: Warum bist Du als junger Mensch nach Kanada ausgewandert?

Herminio: In den 1950er Jahren wanderten viele Deutsche nach Kanada und Australien aus. Meine Berliner Freunde gingen alle nach Australien. Ich entschied mich spontan für Kanada. Zu der Zeit wurde ich immer unruhiger. Ich fühlte, als hätte ich zwei Seelen in meiner Brust: eine deutsche und eine spanische. Das verursachte eine seelische Spannung, die mich belastete, aber gleichzeitig vorwärts trieb. Warum ich mich spontan für Kanada entschied, war mir damals auch nicht ganz klar. Im Nachhinein merkte ich aber, dass die Spur zu Pascasios Geheimnis zu seiner Mutter nach Kuba führt. Von Kanada aus ist Kuba näher und einfacher zu erreichen als von Australien. Außerdem dachte ich damals, Kanada sei ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Ursula: Wie alt warst Du, als Du in Kanada ankamst?

Herminio: Mit 21 bestieg ich ein Schiff im Bremer Hafen. Die Reise dauerte 7 oder 8 Tage. Dann ging es weiter zwei Tage lang per Eisenbahn nach Toronto. Ich erreichte die Stadt im April 1957, und bereits nach zwei Tagen beschaffte mir ein Freund einen Job als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle.

Ursula: War es denn mit Deinem Hintergrund einfach, einen Job zu finden?

Herminio: Dieser erste Job auf der Baustelle ging flott. Doch ich merkte schnell, dass man mich misstrauisch betrachtete. Ich fühlte mich schuldbeladen und anfangs schämte ich mich meiner deutschen Herkunft. Unsere Vergangenheit und unsere Kollektivschuld wurden uns Deutschen immer wieder angelastet. In Deutschland empfand ich diese Situation bedrückend und ungerecht: In der nationalsozialistischen Zeit war ich doch ein Kind, wie konnte ich da schuldig sein? Als Vierjähriger wurde ich bei Ausbruch des Krieges von anderen Kindern in Berlin plötzlich als „Ausländer“ beschimpft. Selbst in Kanada, dem Land der Freiheit, sah man mich anfangs als Schuldigen an; ich wurde öfter als „Nazi“ bezeichnet. Die Frage der Kanadier „woher kommst Du?“ erinnerte mich jedes Mal an die Kriegsschuld Deutschlands. Ich vermied das Wort „Deutschland“ und antwortete statt dessen mit „New Canadian“. Dieses englische Wort klingt ähnlich wie „Ukrainian“; damit hörten die unangenehmen Fragen auf.

Zu dieser Zeit wurde mir meine doppelte Herkunft besonders klar. Ich wurde in Berlin geboren, habe eine deutsche Mutter und einen spanischen Vater. Oft fragte ich mich, wer ich eigentlich bin. Das war der richtige Zeitpunkt, um meine Gedanken und Gefühle schriftlich festzuhalten. 1957 begann ich intensiv mit den Recherchen. Ein Jahr später suchte ich meine Großmutter in Kuba auf. Den Wunsch, sie kennenzulernen, hatte ich ja schon als Kind. Der Besuch dort 1958 war für mich ein bedeutender Wendepunkt im Leben und eine wichtige Episode in meinem Buch. Diese Wende begann im Dezember 1958, ein Jahr nach dem kubanischen Unabhängigkeitskrieg. Ich begann, mich intensiv mit meinen Wurzeln zu beschäftigen, und seither hat es mich immer wieder dort hingezogen. Ich vermutete, dass meine Großmutter das Rätsel um meinen Vater lösen könnte.

Ursula: Wie lange dauerte die Recherche?

Herminio: Die Recherche und umfangreiche Quellensuche, einschließlich mehrerer Interviews in verschiedenen Ländern dieser Welt, dauerten fast 50 Jahre!

Ursula: Wieviel Zeit hat dann das Schreiben bzw. die Arbeit an dem Buch in Anspruch genommen?

Herminio: Das endgültige Schreiben und das endlose Verbessern haben fast drei Jahre in Anspruch genommen. Die Veröffentlichung zog sich dann noch weitere sechs Monate hin. Bei der Arbeit an dem Buch hatte ich mehrere Helfer in drei Ländern: Einen Content Editor und zeitweise vier Personen, die mir bei der Durchsicht des Textes halfen. Das war eine lange Prozedur, weil die Korrekturen jeweils von allen Lesern an verschiedene Orte hin und hergeschickt werden mussten. Wir haben fast alles in Eigenregie geleistet.

Ursula: Das Schreiben des Romans ist die eine Seite, das Publizieren die andere. Wie gestaltete sich die Suche nach einem passenden Verlag?

Herminio: Die Suche nach einem Verlag war nicht einfach. Der Marktanteil von Biographien ist vergleichsweise klein und beschränkt sich meist auf bekannte Persönlichkeiten. Da ich das Buch anfänglich nur für meine Familienangehörigen konzipiert habe, ging es mir nicht um den öffentlichen Vertrieb. Es gibt aber Verlage, die Autoren wie mich unterstützen und begleiten. Bei mir ist es der Tredition-Verlag. Zu meiner großen Überraschung erfreute sich aber ein größerer Leserkreis an meiner Geschichte. Viele Leser drängten mich dann, das Buch auch anderen Menschen zugänglich zu machen.

Ursula: Wie konnte Dein Buch überhaupt bekannt werden ohne öffentliche Werbung?

Herminio: Darüber wundere ich mich auch heute noch. Meine Tochter erwarb das Buch schon, bevor der Verlag es mir zuschickte. Sie machte in ihrem Bekanntenkreis Werbung für das Buch. Viele fanden die Geschichte interessant und machten wiederum ihre Freunde und Bekannten darauf aufmerksam. Auf diese Weise zog meine Geschichte immer weitere Kreise. Ich selbst bekam auch positive Rückmeldungen. Bekannte und Freunde eines Autors sind gerne bereit, moralische Unterstützung zu leisten. Das ist zwar gut für die Seele, aber nicht ausreichend für mich. Ich war mir nicht sicher, ob das Lob mir galt oder der Geschichte. Besonders am Anfang brauchte ich aber unabhängiges, kritisches Feedback. Und ich bekam Emails von Leser:innen, die mich nicht kannten. Die Reaktionen machten mir bewusst, dass meine Geschichte auch für fremde Leser:innen interessant war. Diese empfahlen den Roman dann auch weiter und er wurde bekannter.

Ich empfehle jedem angehenden Autor, Bücherclubs und Lesekreise anzusprechen und niemals aufzugeben. Rom wurde auch nicht über Nacht zu einem bedeutenden Ort. Für die englische Ausgabe hat mir mein Verlag etwas geholfen. Dadurch erwarben einige öffentliche Büchereien mehrere Exemplare. Zusätzlich organisierten wir eine Buchausstellung in einem der größten Bücherhäuser vor Ort. Das hat sich auch wieder gelohnt. Für die deutsche Ausgabe hatte ich das große Glück, in den „Literaturkreis.online“ von Ursula Schäfer aufgenommen zu werden. Die Resonanz war sehr positiv und ich habe gehört, dass einige Teilnehmer:innen mein Buch schon mehrfach als Geschenk für Freunde und Familie gekauft haben. Mit etlichen Leser:innen aus Deutschland und anderen Orten der Welt stehe ich inzwischen in einem Emailkontakt; wir tauschen Leseeindrücke und teilweise gleiche Erlebnisse aus. Ein Leser hatte mich sogar zu einem Besuch nach Berlin eigeladen und wir haben zusammen mit unseren Frauen die im Buch vorkommenden Plätze besucht. Das war eine besondere Ehre für mich. Man sieht, wenn man einmal einen Punkt gefunden hat, an dem man starten kann, zieht das ganze schnell Kreise.

Ursula: Du bist gebürtiger Berliner und lebst jetzt in Kanada. Das Buch wurde zuerst auf Englisch verfasst und danach auf Deutsch. Warum beide Sprachen?

Herminio: Wie bereits angedeutet, schrieb ich meine Geschichte für meine Familienangehörigen. Da meine Verwandten verstreut in verschiedenen Ländern (Kanada, Spanien, Kuba, Deutschland) leben, war es mein Wunsch, eine englische, eine deutsche und eine spanische Version zu verfassen. 2018 erschien das erste Buch auf Englisch in Kanada, 2021 erschien die deutsche Ausgabe. Ich verbrachte 21 Jahre in Berlin, bevor ich nach Kanada ging. Ein wichtiger Teil der Geschichte spielt sich in Deutschland ab, und so schien es logisch, die Geschichte auch auf Deutsch zu veröffentlichen. Eine spanische Ausgabe zu schreiben fällt mir allerdings wesentlich schwerer, weil mein Spanisch für ein solches Projekt nicht ausreicht. Es bleibt aber immer noch mein Traum, denn es gibt auch außerhalb meiner Familie Interessenten, die den Roman gerne auf Spanisch lesen würden. Ich wurde bereits von einem Lesekreis aus Guatemala eingeladen, um über mein Buch zu sprechen.

Ursula: Gibt es unterschiedliche Reaktionen in Kanada und Deutschland auf das Buch?

Herminio: Die Reaktionen sind in beiden Ländern ähnlich, aber kleine Unterschiede gibt es tatsächlich. Die kanadischen Leser sind häufig erstaunt, wie es den Deutschen während und nach dem Krieg erging. Es war für sie überraschend zu erfahren, dass große Teile der Bevölkerung großes Leid erfahren und Not gelitten haben. Das ist verständlich, weil die kanadische Kriegspropaganda damals ein sehr einseitiges Bild von Deutschland vermittelt hat. Durch meine Geschichte haben sie so etwas wie ein „Aha-Erlebnis“.

Ein gebürtiger Niederländer schrieb mir, er sei kurz nach dem Krieg geboren und mit einer gewissen Abneigung gegen die Deutschen aufgewachsen. Nach dem Lesen meiner Geschichte sei er zu der Einsicht gelangt, dass beide Seiten schweres Leid erlitten haben. „Ich habe gelernt, in den Schuhen des Anderen zu gehen, bevor ich jemanden verurteile. Vielen Dank, dass Du Deine Geschichte aus dieser Zeit mit uns geteilt hast.“

Meine deutschen Leser:innen fühlen sich durch meine Kriegserzählungen an ihre eigene Kindheit erinnert: „So oder so ähnlich war es bei mir auch“. Aber diese Zeit ist ja nur ein kleiner Teil meiner Geschichte. Den größten Raum nimmt die Suche nach Pascasio ein, und dazu haben alle Leser:innen den gleichen Abstand.

Ursula: Hast Du den Roman eigentlich aus dem Gedächtnis heraus geschrieben?

Herminio: Wie schon angedeutet, begann ich schon lange vorher, Tagebuch zu führen. Ich hielt oft Zwiesprache mit meinem Tagebuch: Ich sammelte alle möglichen Informationen und notierte meine Gedanken, Gefühle und Probleme im Tagebuch. Das war eine große Hilfe. Manchmal, wenn ich keine andere Möglichkeit hatte, schrieb ich Ideen auf Fahrscheine oder Papierfetzen und steckte sie in meine Hosen- oder Jackentaschen. Bei jedem Griff in die Tasche dachte ich an das, was auf dem Zettel stand. Das war eine hervorragende Gedächtnisstütze – kann ich jedem nur empfehlen.

In der frühen Schreibphase wusste ich noch nicht, wie ich die vielen Notizen organisieren sollte. Gedanken und Erinnerungen treten nicht immer in einer linearen Reihenfolge auf. Ich griff öfters zum Tagebuch, wenn alles sinnlos und chaotisch erschien. Das Lesen in meinem Tagebuch hat mich auch immer wieder ermutigt, weiterzumachen.

Ursula: Die Geschichte ist sehr umfangreich. Entspricht alles der Realität? Wieviel Fiktion ist enthalten?

Herminio: Ja und nein. Ich wollte von Anfang an nicht nur Daten bringen. Solche Biographien haben mich immer gelangweilt. Der Inhalt der Geschichte sollte interessant und gleichzeitig spannend sein. Um eine Autobiographie zu schreiben, musste ich mich vom Inhalt distanzieren. Dies war nur durch viele Jahre und viel Nachdenken möglich. Daher dauerte es auch so lange, bis sie in den Druck kam.

Das meiste in meinem Buch bezieht sich auf echte Menschen und belegbare Fakten und ich würde es als autobiographisch bezeichnen. Solange es um die Fakten ging, war alles ganz einfach. Ein Roman ist eine rein fiktionale Geschichte. Sobald ich in die Gedankenwelt einer Person eintauchen musste, wurde es kompliziert. Dann wurde die Autobiographie zu einem autobiographischen Roman. Streng genommen kann mein Buch stellenweise so eingestuft werden.

Ursula: Dein Roman ist eine Familiengeschichte, die sich spannend wie ein Krimi oder Abenteuerroman liest. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Du wolltest dem Leser auch eine Botschaft vermitteln. Welche?

Herminio: Eine Botschaft zu vermitteln, war nicht meine Absicht. Eine gute Geschichte ermöglicht aber den Leser:innen, eine ganz persönliche Botschaft darin zu finden. Ich war überrascht und beeindruckt, dass einige Leser:innen mir ganz persönliche Reaktionen anvertraut haben. Dadurch habe ich das gute Gefühl, mit meiner Geschichte etwas in ihnen ausgelöst oder bewirkt zu haben.

Ursula: Auf Deiner Website (www.herminioschmidt.com) kann man diese Reaktionen schön nachlesen.

Ursula: Die Suche nach Deinem Vater streckt sich über Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts, das geprägt ist von dramatischen Ereignissen weltpolitischer Bedeutung. Deine zutiefst persönliche Geschichte ist eng verbunden mit einigen von ihnen. Du wurdest in Konflikte mit unberechenbaren Mächten hineingezogen. Was bedeutet das für Dich persönlich? Was für die Geschichte, den Roman?

Herminio: Ich zitiere hierzu Mark Twain, der dies so formuliert hat: „Ich habe in meinem Leben unvorstellbare Katastrophen erlebt. Die meisten davon sind nicht eingetreten.“ Ich kann das bestätigen. Die Welt ist voller Risiken, aber auch voller Möglichkeiten. Wir können entscheiden, ob wir eine Situation als positiv oder negativ einschätzen. Jede Wahl bestimmt unser Handeln.

Goethe hat einmal gesagt: „Unsere Wünsche sind Vorboten unserer Fähigkeiten.“ Jeder Mensch hat Bedürfnisse und Wünsche. Diese Wünsche zeigen uns, wohin wir uns entwickeln können. Wir haben die Wahl zwischen diesem Weg und einem anderen. Es liegt an uns, ob wir glücklich oder unglücklich, erfolgreich oder erfolglos sein wollen. Konflikte im Leben sind häufig Stolpersteine, über die wir springen müssen. Diese Erkenntnis hat mich schon in jungen Jahren geprägt. Der Wunsch, ein Buch zu schreiben, begleitet mich seither ununterbrochen.

Ursula: Dein Buch ist eine Entdeckungsreise. Inwiefern? Was können die Leser:innen entdecken?

Herminio: Für mich war es eine Reise in die Vergangenheit. Ich habe mich selbst gefunden und erkannt. Mein Leben ist bis heute ein Abenteuer. Was mir dabei bewusst wurde, war mein Glaube, dass die Welt nicht untergeht. Ich danke meiner Mutter für diesen Glauben. Sie hat sich für ihre Kinder durch ein Leben voller Schwierigkeiten gekämpft. Im Krieg wurde sie drei Mal ausgebombt und ein Mal vom Bombenschutt fast erschlagen. Mütter sind in der Lage, sich selbst zu opfern, um ihre Kinder zu beschützen. Was wir von ihr gelernt haben, ist der Glaube, dass wir es schaffen werden. Wenn Leser:innen dies aus der Geschichte entnehmen können, dann haben sie eine Lebensweisheit gefunden: „Wir schaffen es.“

Ursula: Du hinterfragst in Deiner Story auch manche Auffassungen der Gesellschaftsordnung. Warum? Wie kommst Du dazu?

Herminio: Wenn man lange genug lebt, erkennt man, dass man nicht alles glauben darf, was uns berichtet wird. Wir hatten Glück, von Vater und Mutter zum kritischen Denken angehalten zu werden. Schon als Kinder spürten wir, dass manche Kriegsnachrichten für uns keinen Sinn ergaben. So etwas lernt man als Kind intuitiv. Schon früh in unserem Leben wurden wir skeptisch, insbesondere, nachdem uns Pascasio verlassen hatte.

Später, als ich anfing, für die Medien zu schreiben, lernte ich, was man vor über 100 Jahren als „Yellow Journalismus“ bezeichnete. Inzwischen kennen wir den Begriff alle als „Fake News“. In jüngster Zeit wurde „Fake News“ zur Perfektion entwickelt. Deren Verbreitung kann dazu führen, dass ein ganzes Volk hinters Licht geführt wird. Man kann mit „Fake News“ sogar zum Präsidenten gewählt werden. Man muss nur die Unwahrheiten beständig wiederholen. In Kriegszeiten werden wir ständig mit Halbwahrheiten bombardiert. Deshalb ist es so wichtig, Behauptungen kritisch zu hinterfragen. Es ist wichtig, seine Quellen kritisch zu überprüfen, bevor man sie als bare Münze nimmt.

Ursula: Auf der Suche nach dem Vater, die Dich in viele Länder geführt hat, hast Du auch andere Teile der Familie gefunden und kennengelernt. Wie war das für Dich? Bestehen diese Kontakte heute noch? Was ist mit den nachfolgenden Generationen?

Herminio: Mit 22 Jahren lernte ich erstmals meine kubanische Großmutter kennen. Diese Frau beeindruckte mich zutiefst. Der Besuch in Kuba 1959 war für mich ein wichtiger Wendepunkt in meinem Leben und eine bedeutende Episode in meinem Buch. Unsere Großmutter ist inzwischen verstorben, aber wir haben noch engen Kontakt zu unseren kubanischen Verwandten. Erst im vergangenen März gab es wieder ein Familientreffen auf Kuba.

Später, 1984, entdeckte mein Bruder einen Cousin auf den Kanarischen Inseln. In einem kleinen Ort auf der Insel La Gomera wurde unser Vater geboren. Wir reisten beide dorthin und lernten die Cousins meines Vaters kennen. Dort hörten wir auch einige seltsame Andeutungen über das Leben von Pascasio. Genau wie in Kuba schienen die Verwandten nicht gerne über die Vergangenheit zu sprechen und die Begegnung mit ihnen hinterließen nur noch mehr Fragen in unseren Köpfen.

Als unsere Kinder erwachsen waren, reisten wir als Familie wieder nach La Gomera. Beim dritten Besuch lernten wir Pascasios Geschichte kennen. Dort fanden wir den Schlüssel zu seinem Geheimnis und konnten endlich sein Leben nachvollziehen.

Ursula: Zur Person Pascasio: Woher genau stammt er? Warum kam er damals nach Berlin und was hat er dort gemacht?

Herminio: Pascasio wurde 1899 in einem kleinen Dorf auf der Insel La Gomera geboren. Er lebte dort mit seinen Eltern und Geschwistern, bis seine kubanische Mutter mit ihnen nach Kuba zurückkehrte. Pascasio war damals 13 Jahre alt und blieb bis zu seinem 17. Lebensjahr dort. Dann ging er nach Spanien, um seine Ausbildung abzuschließen. Von Madrid aus, wo er auch Deutsch, Englisch und Französisch lernte, wanderte er quer durch Europa, bis er schließlich 1928 in Berlin seine Berufung fand. In Deutschland verbreitete sich nach der großen Depression eine Aufbruchstimmung; die Hauptstadt Berlin war ein wichtiges und attraktives Zentrum. Pascasio arbeitete als Journalist in Berlin und gründete dort eine Presseagentur. Er verschickte seine Berichte aus Deutschland an 300 Zeitungen in der spanischsprachigen Welt. Die Nationalsozialisten unterstützten ihn seit 1930, und kurz nach der Machtübernahme begann er seine wöchentlichen Kommentare über den Kurzwellensender in alle Welt. Pascasio hatte in dieser Zeit Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten der NS-Regierung bis zu seiner Flucht 1939. Es musste etwas passiert sein, dass er dieses Land fluchtartig verlassen hat.

Ursula: Wie siehst Du Deinen Vater und seine Handlungen heute? Hast Du Verständnis?

Herminio: Nachdem wir heute mehr über Pascasios Leben wissen, haben wir uns mit der Vergangenheit ausgesöhnt. Wir können heute nachvollziehen, welche Fehlentscheidungen er getroffen hat. Wir wissen heute, warum er sich und seine Familie ins Unglück gestürzt hat. Diese Fehltritte hatten dramatische Folgen. Nachdem wir die Ursachen seiner Handlungen erforscht haben, habe ich Verständnis für meinen Vater. Alles im Leben hat seine Ursachen und Konsequenzen. Wir können nicht den Richter spielen. Wir selbst sind auch nicht vollkommen.

Ursula: Ist ein weiteres Buch in der Planung? Es gibt ja noch die Geschichte von Pascasios Vaterseite…

Herminio: In meinem Kopf habe ich bereits mehrere Gedanken, die zu einem spannenden Roman führen können. Ich hoffe, dass ich noch auf ein paar produktive Jahre blicken kann.

Im übrigen hat jeder von uns spannende Erlebnisse, die festgehalten werden sollten.

Ursula: Lieber Herminio, wir danken Dir ganz herzlich für dieses Interview!

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