Lesen oder lesen lassen
Notiz / 8. Dezember 2020
Hinter dem heutigen Türchen verbergen sich drei aktuelle Romane zum Verschenken oder Selberlesen. Ich habe zu jedem ein paar Zeilen geschrieben, um einen kurzen Eindruck zu vermitteln. Meiner Meinung nach eignen sich alle drei für Männer und Frauen gleichermaßen. Vielleicht habt Ihr demnächst Zeit und Lust, in Eurer Lieblingsbuchhandlung danach zu stöbern. Mein Tipp: Nehmt alle!
Daniel Mason: Der Klavierstimmer Ihrer Majestät
Im Auftrag „Ihrer Majestät“ unterwegs zu sein, ist eigentlich das Privileg von James Bond. Doch Daniel Mason schickt in seinem Roman einen veritablen Anti-Helden auf eine heikle Mission: Edgar Drake, 41 Jahre alt, Spezialist für kostbare Erard-Flügel und vielbeschäftigter Klavierstimmer, hat England noch nie verlassen. Ausgerechnet er wird im Jahre 1886 im Auftrag der Krone in den tiefen Dschungel Birmas beordert, um den Flügel des dort stationierten Armeearztes Anthony Carroll zu reparieren. Ein ebenso interessanter wie gefährlicher Auftrag, denn vor Ort tobt der brutale britisch-birmanische Krieg, und von Militärangelegenheiten ist Drake bisher verschont geblieben. Dennoch fühlt er sich verpflichtet, den sagenumwobenen Carroll in dessen Bestreben – die Befriedung der Birmanen mithilfe der Musik statt militärischer Härte – zu unterstützen. Er nimmt die Herausforderung an, und der Leser begleitet ihn auf seiner mehrwöchigen abenteuerlichen Reise in eine ferne, exotische Welt. Je mehr er in diese eintaucht und sich in ihr bewegt, desto größer wird der Abstand zu seinem alten Leben. Es soll die dramatischste Zeit seines Lebens werden.
Mit detailreichen Schilderungen von Land, Leuten und Natur, kenntnisreich ergänzt um historische Fakten, malt Mason ein lebendiges Panoramabild des Britischen Empires in diesem Teil der Welt. Der Roman ist eine Geschichte über den Kolonialismus, ein Einblick in die Kunst des Klavierstimmens, ein philosophisches Nachdenken über die Musik als Mittel der Völkerverständigung und Botschafter der Mitmenschlichkeit, und nicht zuletzt eine Abenteuer- und Liebesgeschichte.
Maggie O´Farrell: Judith und Hamnet
Ein Shakespeare-Roman – und doch wieder nicht. Der Name „Hamnet“ deutet auf die berühmteste Tragödie der Weltliteratur und Shakespeares Sohn war mutmaßlich die Vorlage dafür, doch O´Farrell stellt in ihrem Werk nicht den Dramatiker und sein Schaffen in den Vordergrund, sondern die Familie, die den Tod eines Kindes verkraften muss. Der Fokus liegt dabei auf seiner Frau Agnes, die den Alltag organisieren muss, und den Kindern. Der große Shakespeare wird zwar als liebender und schmerzerfüllter Vater gezeichnet, muss sich aber eher mit einer Nebenrolle begnügen: Des Provinzlebens in Stratford überdrüssig, zieht er ins pulsierende London, um sich der Schriftstellerei zu widmen; nach Hause kommt er nur sporadisch. Dem Leser wird eine spannende, berührende und mitreißende Geschichte erzählt, in deren Mittelpunkt eine außergewöhnliche und für die damalige Zeit erstaunlich moderne Frau steht. Freigeistig, eigensinnig, mit großen Kenntnissen in verschiedenen Wissenschaften ausgestattet, präsentiert sich eine faszinierende Person. Vom ungewöhnlichen Kennen- und Liebenlernen der blutjungen Leute, von der Gründung eines gemeinsamen Hausstandes, der Aufzucht der Kinder und der Verbundenheit bei der Trauerbewältigung wird geschrieben; immer sorgfältig eingebettet in den historischen Kontext des 16. Jahrhunderts. Der Roman fesselt von der ersten Seite an und weckt den Wunsch, ihn in einem Rutsch lesen zu wollen.
Daniel Mellem: Countdown
In „Countdown“ geht es sehr viel um Physik, trotzdem kann der Roman auch von Nicht – Luft- und Raumfahrttechnikern mit großem Genuss gelesen werden, denn es geht nicht um Formeln, sondern um Figuren. Mellem erzählt die Geschichte des Raketen-Pioniers Hermann Oberth; über sein Leben, seine Träume, die Abstürze und Niederlagen. Oberth, das ist der Provinz-Physiker aus Siebenbürgen, der ab den 20ger Jahren des letzten Jahrhunderts dem Traum von der Mondrakete beharrlich und unerschütterlich gefolgt ist. Dass dieser Weg steinig und von Misserfolgen geprägt war, kann der Leser sehr gut nachverfolgen. Die Biografie dieses Wissenschaftlers weist Stationen auf, die ihn technisch weitergebracht haben, menschlich und moralisch aber häufig grenzwertig waren. Der Autor lotet die verschieden Facetten Oberths genau aus; er zeigt einerseits die Genialität des wissenschaftlich denkenden Gehirns und andererseits das emphatische Defizit, das eine gewisse Alltagsuntauglichkeit hervorruft. Ein raffinierter Kniff ist, dass die Kapitel des Romans von oben nach unten nummeriert sind, also im Countdown-Modus gelesen werden. Dass sich dabei die Spannung bis zur letzten Zahl steigert, versteht sich von selbst.