Déjà-lu?


Wer nicht lesen will…

Notiz / 15. Januar 2020

…muss hören!

Seit vielen Jahren schon bin ich ein großer Fan von Hörbüchern. Vor allem auf langen, einsamen Autofahrten sind sie der ideale Reisebegleiter. Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden habe, welche Geschichten mir die Fahrzeit angenehm gestalten und welche sich nicht zum „Nebenbeihören“ eignen. Inzwischen möchte ich ungern auf diese Art der Unterhaltung verzichten und ich habe sie darüber hinaus beim Bügeln, Joggen, auf dem Laufband oder Heimtrainer zu schätzen gelernt.

Die Auswahl eines geeigneten Hörbuchs kann sich ebenso schwierig gestalten wie die der gedruckten Variante zum Lesen. Nicht alle Inhalte sind gehört so spannend wie selbst gelesen, nicht alle Sprecher lesen gut. Deshalb habe ich heute vier Hörbücher für Euch, die mich ausnehmend gut unterhalten haben und bei denen ich mir sogar vorstellen könnte, später einmal auch noch das Buch zu lesen.

In „Gott wohnt im Wedding“ erzählt Regina Scheer die wechselvolle Geschichte eines 100 Jahre alten Mehrfamilienhauses und seiner Bewohner in diesem Berliner Viertel. Es ist eine Reise durch viele Kapitel deutscher Geschichte, wobei die 30ger Jahre und der 2. Weltkrieg einen relativ breiten Raum einnehmen. Der Roman beginnt mit dem Jahr 2015, mit der Rückkehr des alten Leo Neumann aus Israel, der vor 70 Jahren ebenfalls in diesem Haus gewohnt hat und gekommen ist, um Entschädigungsansprüche geltend zu machen. Begleitet wird er von seiner erwachsenen Enkelin. Während diese Berlin aufregend und inspirierend findet, taucht Leo – und der Hörer mit ihm – ein in die schmerzvolle Vergangenheit. Nach und nach erfährt man seine Lebensgeschichte und die der damaligen Hausbewohner, von denen heute nur noch Gertrud dort lebt. Daneben werden viele weitere Handlungsstränge geknüpft, die von gegenwärtigen, traurigen Lebensumständen und vergangenen Leidenswegen, Hoffnungen, Sehnsüchten und Träumen erzählen. So bunt gemischt wie die Mieter, so unterschiedlich sind auch ihre Biografien. Dadurch entsteht ein hochaktuelles Gesellschaftspanorama, in dem alle relevanten Themen vertreten sind: Migration, Gentrifizierung, Altersarmut, Kriminalität, Arbeitslosigkeit…

Victor von Bülow gibt all diesen Menschen eine Stimme, und seine Art zu lesen zieht den Hörer tief in ihre Geschichten hinein. Informativ, spannend, berührend.

In „Metropol“ erzählt Eugen Ruge einen Teil seiner Familiengeschichte nach. Wobei man eher sagen muss, dass er ein noch fehlendes Puzzleteil nachliefert. Als er „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ verfasste, fehlten ihm entscheidende Informationen zur Biografie seiner Großmutter, was die Moskauer Zeit anbelangt. Zwischenzeitlich wurden unter Verschluss gehaltene Dokumente freigegeben, sodass er den fehlenden Teil ergänzen konnte. Herausgekommen ist eine faszinierende Geschichte, die ein Licht auf die schwierige Lage deutscher Kommunisten in der Sowjetunion der 30ger Jahre wirft. Vor den Nazis aus Deutschland geflohen, arbeiteten viele von ihnen für den Nachrichtendienst der Komintern, in der Kommunisten aus allen Ländern beschäftigt waren. Doch die Zeiten sind hart und unter Stalin wird eine gnadenlose Jagd auf sog. Volksfeinde gemacht. Charlotte (Großmutter) und ihr Mann Wilhelm werden lange Zeit im Hotel „Metropol“ festgesetzt, wo sie auf Klärung ihrer Angelegenheit warten, denn es hat sich eine Bekanntschaft zu einem verurteilten Verräter herausgestellt. Eine zermürbende Zeit des Wartens beginnt, die Ungewissheit der politischen Entwicklung, das Schwanken zwischen dem Wissen, nichts Unrechtes getan zu haben und der Angst, falschen Verdächtigungen zum Opfer zu fallen, zehren an den Nerven. Das willkürliche Verschwindenlassen von Menschen, Gefangenschaft und Hinrichtungen stellen alte Gewissheiten infrage, jeder kann der Nächste sein.

Der Hörer folgt dem Sprecher Ulrich Noethen gebannt durch diese bewegten Zeiten und fragt sich permanent, ob und wie die Hauptpersonen dieser Geschichte unbeschadet entfliehen können oder mit welchen Blessuren sie davon kommen.

Für die eine Hälfte von „Alles, was wir sind“ von Lara Prescott bleiben wir in der Sowjetunion, die andere spielt zeitgleich in den USA. Wer kennt heute noch das opulente Werk „Doktor Schiwago“ des russischen Schriftstellers Boris Pasternak? Vielleicht ist dem ein oder anderen der Titel geläufig, der Inhalt grob bekannt oder die oscarprämierte, wenn auch gegenüber der Vorlage stark veränderte Verfilmung aus dem Jahr 1965 im Gedächtnis. So emotional und aufwühlend der Inhalt des Romans, so dramatisch ist seine Entstehung und Verbreitung: 1956 fertiggestellt, wurde er in der Sowjetunion sofort und für lange Zeit wegen der angeblich kritischen Darstellung der Oktoberrevolution mit einem Publikationsverbot belegt. 1957 gelangte das Manuskript auf abenteuerlichen Wegen zum Mailänder Verlag Feltrinelli, der es auf italienisch übersetzte und veröffentlichte. Ein Jahr später konnte in Den Haag eine von der CIA gesponsorte russische Originalausgabe auf den Markt gebracht werden. Der Hintergedanke der Amerikaner war, diese Ausgabe in der Sowjetunion zu verbreiten und den russischen Lesern zugänglich zu machen, sozusagen als Propagandamittel einzusetzen. Nebeneffekt war, dass Pasternak dafür den Literaturnobelpreis verliehen bekam, ihn aber aus politischen Gründen ablehnen musste. Erst 1988, mit Beginn der Perestroika, wurde „Doktor Schiwago“ in der Sowjetunion veröffentlicht.

Lara Prescott erzählt nun diese Entstehungs- und Publikationsgeschichte mit viel Faktenwissen – sie hat die entsprechenden Orte und Archive aufgesucht und gründlich recherchiert – und soviel literarischer Freiheit wie möglich, um eine spannende Story für den Hörer daraus zu machen; wie immer hervorragend gelesen von Vera Teltz. Dass die Autorin ausschließlich aus weiblicher Perspektive erzählt, verleiht der Geschichte einen besonderen Reiz. Eindrucksvoll erfährt man interessante Fakten über die vielen unterschiedlichen Frauen in Ost und West, die im Kontext dieser Zeit an der Sache beteiligt waren.

Ein Autor, dessen Geschichten ich gleichermaßen gerne lese wie höre, ist Rafik Schami. Und da ich wusste, dass demnächst viele Kilometer Autofahren vor mir liegen würden, habe ich mir Die geheime Mission des Kardinals“ besorgt. Der Titel klingt nach Krimi. Das ist es auch, aber nicht nur. Wie immer bei Rafik Schami, geht es um nichts weniger als Familie, Frauen, Liebe, um Politik, Religion, Syrien, Damaskus…15 Stunden beste Unterhaltung! Kommissar Barudi steht kurz vor seiner Pensionierung und freut sich auf ein Leben ohne politische Korrektheit, Korruption und polizeiliche Intrigen. Er ist der beste Ermittler im Land genießt einen ausgezeichneten Ruf; da ist es nicht verwunderlich, dass ihm in seinen letzten Dienstwochen noch ein brisanter Fall vor die Füße fällt: In der italienischen Botschaft wird ein Fass, gefüllt mit allerfeinstem Olivenöl, angeliefert. Beim Öffnen entdeckt der Koch darin die Leiche eines italienischen Kardinals. Schnell wird klar, dass die Angelegenheit nicht nur viele Fragen aufwirft, sondern äußerst pikant ist und einer diskreten Behandlung bedarf. Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, untestützt von einem italienischen Kommissar aus Rom. Die beiden nehmen unverzüglich gemeinsam Witterung auf. Wer ist der Kardinal und was wollte er in Syrien? Wer hatte Veranlassung, ihn zu töten und warum? Weshalb wurde seine Leiche in der italienischen und nicht in der vatikanischen Botschaft abgeliefert? Welche Bewandtnis hat der ominöse Bergheilige? Diese und andere Fragen wollen beantwortet werden, aber so mysteriös der Fall, so undurchsichtig sind die Ränkespiele der Damaszener Polizei und des syrischen Geheimdienstes dabei. Eine spannende Spurensuche beginnt und führt die beiden Kommissare und ihr Team bis nach Aleppo und in die Berge. Während der Hörer der sich allmählich entwickelnden Krimihandlung folgt, lässt Schami ihn viele mitreißend erzählte Umwege nehmen, um nach 15 Stunden Hördauer zum Ziel zu gelangen. Denn genauso spannend wie die Krimihandlung sind die Geschichten, die darum herum gesponnen werden und uns die handelnden Personen und Umstände näherbringen: Die traurige Familiengeschichte Barudis, die sich zärtlich anbahnende neue Liebe, seine Karriere bei der Polizei, das Leben des italienischen Kommissars, das Funktionieren oder Nichtfunktionieren der syrischen Gesellschaft, der Geheimdienst, die Religionen, die Küche Damaskus´….

Ein raffinierter Kniff ist, dass die Erzählung (genial gelesen von Udo Schenk) regelmäßig unterbrochen wird durch Einträge in Barudis Tagebuch (engagiert vorgetragen von Jürgen Tarrach), in dem Geschehnisse zusammengefasst und persönliche Gedanken formuliert werden. Insgesamt ist die Geschichte wieder typisch Schami: Originell, informativ, spannend, mitunter ergreifend, dann wieder komisch; sprachlich kreativ, von Anfang bis Ende voller Esprit und Erzählfreude. So kenne ich ihn, so liebe ich ihn!

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