Déjà-lu?


Eduard von Keyserling

Reisebericht / 1. Dezember 2019

Heute möchte ich Euch gerne von meinem Baltikum-Urlaub im Sommer berichten und was ein Schriftsteller aus dem „Fin de Siècle“ damit zu tun hat. Dazu muss ich ein wenig ausholen:

Vor längerer Zeit schon habe ich den Roman „Keyserlings Geheimnis“ von Klaus Modick gelesen. Wie bereits die Künstlerbiografien „Sunset“ und „Konzert ohne Dichter“, hat mir das neueste Werk ebenfalls ausnehmend gut gefallen. Ich habe mich nicht nur glänzend unterhalten, sondern auch gut informiert gefühlt. Manchmal glaubt man ja, ziemlich viel über eine Person zu wissen, doch dann tauchen unbekannte, spannende Details auf, die das Bild erst vervollständigen. Oder aber, es gerät, wie bei Keyserling, ein Schriftsteller in den Fokus, dessen Name irgendwoher bekannt erscheint, aber ansonsten ein ziemlich unbeschriebenes Blatt zwischen all den Klassikern im Bücherregal ist. Und wieder hat Modick es geschafft, seine Geschichte so interessant zu erzählen, dass ich große Lust verspürt habe, mich mit dem Oeuvre dieses Keyserlings zu befassen und zu lesen, was er so zu Papier gebracht hat. Mit „Wellen“ hat dann alles angefangen; das war sozusagen die Einstiegsdroge. Ich habe zunächst nur die Taschenbuchausgabe gekauft, denn man weiß ja nie….Allerdings war ich sofort von Inhalt und Sprache fasziniert, sodass ich mich unverzüglich auf die Suche nach weiteren Werken begeben musste. Wer mich kennt, weiß, dass ich ein Liebhaber bibliophiler Ausgaben bin, und ich wurde nicht enttäuscht: Der Manesse-Verlag hat eine limitierte Geschenkausgabe im Schuber mit den Romanen „Wellen“, „Fräulein Rosa Herz“ und „Dumala“ herausgegeben. Diese steht nun in meinem Bücherregal – schon gelesen! Danach habe ich „Landpartie“ erworben, weil ich nun auch gerne in seine Erzählungen, die zwar unglaublich zahlreich, jedoch zu einem großen Teil nicht mehr erhalten sind, eintauchen wollte. Es sind Guts- und Schlossgeschichten, Kriegs- und Heimatfronterzählungen aus dem vorstädtischen und ländlichen Milieu; immer geht es um (nicht standesgemäße) Liebe, Ehe, stille Sehnsucht, Grenzüberschreitungen und enttäuschte Hoffnungen. Was soll ich sagen? Sie haben mich ebenfalls begeistert, und ich habe die insgesamt 650 Seiten förmlich verschlungen. Dazu habe ich kürzlich festgestellt, dass der Manesse-Verlag mit „Feiertagskinder“ einen Band mit späten Romanen druckfrisch nachgelegt hat. Der ist selbstverständlich sofort auf meine Wunschliste gewandert.

Aber wer ist dieser Eduard von Keyserling eigentlich? Seine Vita im Schnelldurchlauf: Geboren 1855, entstammt er einem kurländischen (deutsch-baltischen) Adelsgeschlecht im heutigen Lettland. Aufgewachsen auf dem Gut Tels-Paddern, Schulbesuch in Goldingen (heute: Kuldiga), Studium in Dorpat (heute: Tartu). Von dort musste er unter mysteriösen Umständen verschwinden (s. „Keyserlings Geheimnis“) und zog für ein Studium der Philosophie und Kunstgeschichte erst nach Wien, später nach Graz. Nach einem zweijährigen Intermezzo als Verwalter der elterlichen Güter reiste er dann über Italien nach München. Er wurde Teil der Schwabinger Bohème und umgab sich mit Künstlern wie Lovis Corinth, Frank Wedekind, Alfred Kubin, Max Halbe und anderen. In dieser Gesellschaft verfasste er auch das Gros seiner Werke. Eine alte Syphiliserkrankung, ein Rückenmarksleiden und die schleichende vollständige Erblindung führten dazu, dass er seine Texte nicht mehr selbst schreiben konnte, sondern seinen Schwestern diktieren musste. 1918 verstarb er in München. 

An dieser Stelle nun schlage ich endlich den Bogen zu meinem Urlaub im letzten Sommer: Auf unserer Rund- bzw. „Kreuz-und-quer-Reise“ durch das Baltikum hatte ich permanent das Gefühl, durch die Literatur Eduard von Keyserlings zu reisen. Die Kulisse: Unendliche Wälder, blühende Wiesen und Felder bis zum Horizont; staubige Alleen, unberührte Küsten- und wilde Dünenlandschaften. 

„Die farblose Durchsichtigkeit der Sommerdämmerung legte sich über das Land und das Meer, jetzt lichtlos, schien plötzlich unendlich groß und fremd. Auch das Rauschen war nicht mehr so geordnet eintönig und taktmäßig, es war, als ließen sich die einzelnen Wellenstimmen unterscheiden, wie sie einander riefen und sich in das Wort fielen.“

„Über einen blaßblauen Himmel zogen eilige hellgraue Wölkchen und auf dem Meere hoben sich die Wellen ohne Schaum, groß und grüngrau, ein mächtiges stilles Atmen, erst näher dem Strande wurden sie lebhafter und ließen die weißen Schaumtücher flattern.“

„Das Meer glättete sich und glitzerte weit hinaus.“

Zitate aus Eduard von Keyserlings „Wellen“

Dazwischen immer wieder kleine, verschlafene Dörfer, in denen die Zeit seit hundert Jahren still zu stehen scheint; traditionelle Holzhäuser, gepflasterte, baumbestandene Straßen und enge Gassen prägen heute noch den ursprünglichen Charakter der Kleinstädte.

„Nachdenklich schwenkte sie ihre Schulmappe und blickte zu den Häusergiebeln auf, die schläfrig über die Kastanien auf sie herabsahen. Hier und dort machte ein geöffnetes Fenster ein schwarzes Loch in das lichtvolle Bild, gleichsam ein Mund, der in den Alltag hineingähnte.“

„Die Straße war leer, kein Lufthauch regte sich. Gerüche von Fleisch und Gemüse strömten aus den geöffneten Fenstern. Papierfetzen und alte Schuhsohlen lagen auf dem Pflaster und sonnten sich.“

„Die drückende Schwüle war vorüber, und die Straßen belebten sich. Alte Herren mit breitrandigen Strohhüten standen mitten auf dem Marktplatz und disputierten laut miteinander. Aus den Fenstern beugten sich Mägde, um Teppiche auszustäuben. Auf den Treppen saßen Frauen ohne Hut und strickten. In langen Reihen zogen die Gymnasiasten, Arm in Arm, die Gasse entlang. Über all dem stand ein blaßblauer Himmel von schmalen, rosenroten Wolken durchzogen.“

Zitate aus Eduard von Keyserlings „Fräulein Rosa Herz“

Oder nostalgische Herrenhäuser und Schlösschen. Eine Vielzahl seiner Geschichten spielt auf kurländischen Gütern. Einige sind heute renoviert und als Museen herausgeputzt, aber man kann sich dennoch den morbiden Charme der Keyserlingschen Beschreibungen vorstellen: Die Herren rauchend in der Bibliothek, die Damen mit gespreizten Fingern Tee trinkend im Salon, und über allem die drückende Schwüle eines Spätsommertages und die Luft geschwängert von Andeutungen und Auslassungen.

„Draußen sengte die Sonne auf die Blumenbeete nieder. Der Duft der Lilien, der Rosen drang heiß zu mir herein, benahm mir den Kopf wie ein süßes, warmes Getränk. Dabei leuchtete alles so grell. Die Gladiolen flammten wie Feuer, die Scholtias waren unerträglich gelb. Der Kies flimmerte. Alle standen sie unbeweglich in der Glut, müßig und faul unter dem schläfrigen Summen, das durch die Luft zog.“

Zitate aus Eduard von Keyserlings „Schwüle Tage“

All die grandiosen, sinnlichen Beschreibungen der Landschaften, Jahreszeiten und Stimmungen, von denen die Romane überquellen, haben ihre Gültigkeit in der Moderne nicht eingebüßt. Im Gegenteil: Es scheint, als ob das historische Bühnenbild einfach in die Gegenwart kopiert worden ist, und es ist ein Leichtes, sich auch das dazugehörende Personal darin vorzustellen. Und das „Zum-Heulen-schön-Gefühl“ beim Lesen stellt sich ebenso beim Betrachten im Jahre 2019 ein.

Wer allerdings glaubt, Keyserling sei nur der Chronist einer untergehenden kurländisch-livländischen Adelsgesellschaft und setze dieser mit scheinbar nostalgischen Geschichten und Szenerien ein charmantes Denkmal, der täuscht sich gewaltig! Man muss schon genau lesen und man muss viel lesen, um zu erkennen, worum es ihm in Wahrheit geht. Seine Charakterisierungen der Personen zeugen von einer intimen Kenntnis und eines genauen Beobachtens des Milieus, doch seine durchweg ironische Erzählhaltung verdeutlicht gleichzeitig seine große Distanz zu der Adelswelt, die er beschreibt. Er kennt sich aus, er schiebt das Personal seiner Geschichten präzise auf dem Spielfeld hin und her; lässt es denken, fühlen und handeln, ohne jedoch dieses Denken, Fühlen und Handeln zu kommentieren. So entlarvt er das Dilemma der damaligen Adelsgesellschaft: Einerseits erlaubt man sich nicht standesgemäße Gedanken und sogar Ausflüge in andere Schichten, doch andererseits führt das unbedingte Festhalten an Traditionen nicht zur Auflösung der starren Konventionen, sondern zum Scheitern der Individuen an ebendiesen. Aus diesem Grund führen letzten Endes alle Versuche, die eng gesteckten Existenzgrenzen zu überschreiten oder Bemühungen, selbst kleine Dinge zu verändern in eine Sackgasse. Alles bleibt, wie es schon immer gewesen ist. Und deshalb drehen sich die Geschichten auch immer im Kreis, beschwören nicht die gute, alte Zeit, sondern entlarven das Unvermögen der Menschen, „out of the box“ zu denken, wie man heute so schön sagt.

Das klingt nach trauriger, eintöniger, enervierender Prosa. Ein wenig ist es das auch. Aber Keyserling verfügt über eine sprachliche Kreativität, die es ihm erlaubt, eine riesige Gefühlswelt unglaublich nuanciert und pointiert zu beschreiben. Sein Stoff ist vielschichtig, nie erzählt er eindimensional und die Personen erregen in ihrer Beschränktheit meistens das Mitgefühl des aufmerksamen Lesers.

Auf diesen Autor muss man sich einlassen. Aber wenn man es tut, ist es eine große Bereicherung – nicht nur für den Bücherschrank!

Diese Seite verwendet Cookies, um angemeldete Nutzer zu erkennen. Es werden keine Cookies zu Tracking- oder Analysezwecken eingesetzt. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen